Britischer Ökonom will Kapitalismus durch private „all-seeing police force“ verbessern

Erschienen am 27. August 2019

Das Eigentum wird in den letzten Jahren immer stärker ausgehöhlt und in Frage gestellt – die aktuelle Debatte um den „Mietendeckel“ und Enteignungen in Berlin sind nur eines von vielen Beispielen. Aber auch im intellektuellen und wissenschaftlichen Bereich finden sich immer mehr Theoretiker, die das Eigentum in Frage stellen. Manche machen das ganz offen, andere wiederum geben vor, sich für die „soziale Marktwirtschaft“ oder für einen „sozialen Kapitalismus“ einzusetzen.

Das jüngst erschienene Buch des britischen Ökonomen Paul Collier „Sozialer Kapitalismus! Mein Manifest gegen den Zerfall unserer Gesellschaft“ (englisch: „The Future of Capitalism“) zeigt exemplarisch, wie Ideen zur „Verbesserung“ des Kapitalismus in Wahrheit zu einem anderen System führen, das mit Marktwirtschaft nicht mehr viel zu tun hat.

Auf jede positive Formulierung, in der er sich zum Kapitalismus bekennt, folgt sofort ein „aber“: „Kapitalismus hat viel erreicht, und Wohlstand kann es ohne ihn nicht geben, aber…“ (S.38) “Der moderne Kapitalismus hat das Potenzial, uns allen beispiellosen Wohlstand zu bringen, aber…” (S.45).

Das Argumentationsmuster ist bei Collier ähnlich wie bei vielen anderen Politikern und Intellektuellen: Es gab eine “gute Zeit” des Kapitalismus (bei Collier währte diese von 1945 bis 1970), aber der heutige Kapitalismus funktioniert angeblich nicht mehr richtig und muss deshalb dringend reformiert werden. Und dann folgt bei Politikern und Intellektuellen stets eine große Anzahl von Ideen, wie sie den Kapitalismus „verbessern“ wollen. Beispielsweise schlägt Collier ein neues Steuersystem vor, in dem große Unternehmen höher besteuert würden als kleinere Unternehmen. Damit würden jedoch erfolgreiche Unternehmen für ihren Erfolg bestraft. Solche Steuern würden wie eine Wachstumsbremse wirken.

Vorstände, die das „Gemeinwohl“ nicht beachten, vor Gericht!

Noch radikaler ist folgende Idee von Collier: “Die beste Methode, um diese Unzulänglichkeiten zu überwinden, besteht nicht darin, die Regulierung zu verstärken, sondern dem öffentlichen Interesse dort eine Stimme zu geben, wo die Entscheidungen getroffen werden: Es muss in den Leitungsgremien eines Unternehmens, in Vorstand und Aufsichtsrat direkt repräsentiert sein.” (S.133) Im ersten Moment könnte man an „Politkommissare“ denken, wie es sie in totalitären Systemen gibt, die über die Einhaltung von politischen Richtlinien wachen. Aber Collier hat eine andere Idee. Er fordert, die Gesetze so zu ändern, dass die Unternehmensführer gezwungen werden, nicht nur nach dem Interesse ihrer Firma zu entscheiden, sondern nach dem „Gemeinwohl“. Wer das Gemeinwohl („public interest“) nicht beachte, solle bestraft werden: „Wie kann dem öffentlichen Interesse in den Leitungsgremien am besten Geltung verschafft werden? Das entsprechende Gesetz könnte so geändert werden, dass die angemessene Berücksichtigung des öffentlichen Interessen für alle Mitglieder der Leitungsgremien verpflichtend vorgeschrieben würde. Aufgrund ihrer gesetzlichen Haftpflicht könnten Vorstands- und Aufsichtsratmitglieder, die sich über einen wichtigen Aspekt des öffentlichen Interessen hinwegsetzen, zivil- und/oder strafrechtlich belangt werden.“ (S.134)

Damit wäre der Willkür Tür und Tor geöffnet. Denn „Gemeinwohl“ ist ein vager und dehnbarer Begriff, unter dem sich jeder vorstellen kann, was er will. Bei Collier ist nicht gemeint, dass sich das Management an gesetzliche Vorschriften halten soll (das ist ja auch heute schon so), sondern dass in seinem „sozialen Kapitalismus“ bei jeder unternehmerischen Entscheidung geprüft werden müsse, ob diese auch im „Gemeinwohl“ liege, was heute wohl heißt, dass sie in Übereinstimmung mit „Nachhaltigkeit“ steht, nicht den Klimawandel befördert und natürlich „Gender“-Gesichtspunkte berücksichtigt. Collier möchte, dass die ganze Gesellschaft einem „sozialen Maternalismus“ verpflichtet sein soll.

Plädoyer für eine private „all-seeing police force“

Doch Collier hat sogar noch radikalere Ideen. Er will, dass Bürger die Rolle von “Polizisten” spielen, die darüber wachen, dass die Unternehmen im öffentlichen Interesse handeln. Er meint damit nicht die staatliche Polizei, sondern durch niemanden legitimierte, also selbsternannte Aktivisten, die die Unternehmen bespitzeln und kontrollieren sollen. „Jede Regulierung kann durch kluges förmliches ‚Abhaken von Kästchen’ unterlaufen werden; jede Steuerlast kann durch geschickte Buchführung verringert werden; jedes Mandat kann durch eigennütziges Denken manipuliert werden. Der einzige Schutz gegen derartige Handlungsweisen ist eine alles sorgfältig beobachtende ‚Polizei’… Die sanfte Aufsichtsfunktion erfordert nicht, dass sich alle daran beteiligen: Wenn eine kritische Masse Teilnehmer überschritten wird, werden die Risiken, die durch das Fehlverhalten von Unternehmen entstehen, untragbar hoch.“ (S. 135) Der deutsche Übersetzer hat die Formulierungen des Autors etwas abgeschwächt, vielleicht weil er dachte, dass Colliers Forderung nach einer „all-seeing police force“ (so die Formulierung im englischen Original) für den deutschen Leser nach den Erfahrungen mit zwei totalitären Systemen abschreckend wirken könnte. Deshalb hat er den Begriff „Polizei“ in Anführungsstriche gesetzt, was im englischen Original nicht der Fall ist bzw. den Begriff „police“ durch „Aufsichtsfunktion“ ersetzt.

Collier setzt darauf, dass sich in jedem Unternehmen genügend selbst ernannte Aktivisten finden, die diese Kontroll- und Spitzeltätigkeit mit Freude übernehmen: „Alle Unternehmen haben einen großen Pool an Mitarbeitern mit feinem ethischem Gespür, die bereit wären, eine zusätzliche Aufgabe zu übernehmen, und stolz darauf, Hüter des öffentlichen Interesses zu werden… Es besteht kein Mangel an hochmotivierten Menschen, die in Großunternehmen arbeiten und sich der Gesellschaft verpflichtet fühlen.“ (S.136)

Obwohl Collier sich in seinem Buch immer wieder zum Pragmatismus bekennt und gegen Ideologen und Populisten wettert, ähneln seine Ideen in erschreckender Weise totalitären Systemen. Wenn private Personen ohne jede Legitimation die Rolle einer „all-seeing police force“ spielen sollen, die darüber wacht, dass die Eigentümer bzw. die Eigentümervertreter im Unternehmen im „public interest“ handeln, dann hat dies auf jeden Fall mit Marktwirtschaft und Kapitalismus nichts mehr zu tun. Vom Kapitalismus bleibt am Ende nichts mehr übrig als das bloße Wort: Zwölf Buchstaben, die aber ihrer eigentlich Bedeutung beraubt wurden.

Paul Collier, Sozialer Kapitalismus! Mein Manifest gegen den Zerfall unserer Gesellschaft. Aus dem Englischen von Thorsten Schmidt, Siedler Verlag, München 2019.

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Über den Autor

Rainer Zitelmann ist einer der führenden Immobilienexperten und -netzwerker in Deutschland.