Bulimielernen statt Verstehen
Studenten-Generation „Auswendiglernen“

Erschienen am 15. April 2017

Fast 60 Prozent eines Jahrgangs beginnen heute eine akademische Ausbildung. Damit ist der Anteil doppelt so hoch wie vor 20 Jahren und zehnmal (!) so hoch wie in den 60er Jahren. Doch gibt es deshalb zehnmal mehr Kluge und Begabte? Viele Studenten sind überfordert – was sich vor allem daran zeigt, dass sie viel auswendig lernen.

Immer klüger?
Es gibt nicht nur immer mehr Studenten, sondern auch die Noten werden immer besser. Das beginnt schon beim Abitur. Früher war es eine seltene Ausnahme, dass jemand ein 1er-Abi hatte, heute hat jeder Vierte ein 1er-Abi (in Thüringen sind es sogar 37,8 Prozent der Abiturienten). Schon vor sieben Jahren ergab eine Analyse des Wissenschaftsrates, dass auch beim Studium fast nur noch die Noten 1 und 2 vergeben werden. In Mathematik und Naturwissenschaften schlossen 83,6% mit einer 1 oder 2 ab, in Sprach- und Naturwissenschaften waren es 88,4% und in Kunst und Kunstwissenschaften sogar 95,5% (hier hatten 45,4 Prozent eine 1!). Die Noten „befriedigend“ und „ausreichend“ werden kaum noch vergeben, so dass die Notenskala zunehmend ihren Sinn verliert, weil sie eben nicht ausgeschöpft wird.
Beobachten wir hier das Wunder, dass von einer Generation zur nächsten die Menschen immer intelligenter werden? Spricht man mit Professoren, dann ist das Urteil ernüchternd. Sie klagen über Studenten, die über unzureichende Qualifikationen verfügen und eigentlich für ein Hochschulstudium ungeeignet sind. Zwar haben Professoren wohl schon immer über wenig befähigte Studenten geklagt, doch wohl nie hatten sie so viel Grund zur Klage wie heute. Sie tragen jedoch auch einen Teil der Schuld, wenn sie Studenten durchkommen lassen oder gute Noten geben, die Zusammenhänge nicht verstehen, sondern vor allem auswendig lernen.

Auswendiglernen meist überflüssig
Ich selbst kann mich nicht erinnern, in meinem Studium auswendig gelernt zu haben, obwohl sicher viele Menschen glauben, gerade das Studium der Geschichte sei damit verbunden, Ereignisse, Namen und Jahreszahlen zu büffeln. Das habe ich nie getan, und dennoch in der kürzestmöglichen Zeit mit 1,0 abgeschlossen, was damals selten war. Ich ahnte nicht, wie viele Studenten heute auswendig lernen, bis mir dies zunehmend Studenten berichteten, die ich privat kenne oder bei Bewerbungen kennenlernte.
Ein Schlüsselerlebnis waren für mich die Eingangstests, die ich bei meiner ehemaligen Firma einführte. Die Bewerber mussten sich vier Wochen lang auf ein Thema vorbereiten und dann eine mündliche Prüfung absolvieren. Ich merkte, dass viele Bewerber die Zusammenhänge, um die es ging, gar nicht verstanden hatten. Sie sagten Sätze auf, die sie ganz offensichtlich auswendig gelernt hatten. Das wurde klar, wenn ich die Bewerber darum bat, diese Zusammenhänge in eigenen Worten auszudrücken – und zwar möglichst, ohne Begriffe zu gebrauchen, die sie vor fünf Wochen noch nicht gekannt hatten. Oder ich bat sie, den Zusammenhang in so einfachen Worten zu erklären, dass auch jemand mit unterdurchschnittlichem Wissen und Auffassungsgabe den Sachverhalt verstehen kann. Daran scheiterten viele. Auch bei Nachfragen merkte ich, dass die Bewerber das, was sie da erzählten, überhaupt nicht verstanden hatten. Sie reihten Worte aneinander, deren Sinn ihnen verschlossen blieb.
Natürlich gibt es Fälle, in denen es ohne Auswendiglernen nicht geht: Vokabeln einer Fremdsprache muss man meist auswendig lernen – sie lassen sich durch Nachdenken und Verstehen nun einmal nicht erschließen. Fast jeder Student, der viel auswendig lernt, behauptet, gerade in seinem Fach sei dies nun einmal notwendig und unvermeidlich. In den meisten Fällen trifft das jedoch nicht zu. Wer Zusammenhänge versteht und sich intensiv mit einem Thema beschäftigt, dem prägen sich die dazugehörigen Fakten auch ohne stupides Auswendiglernen ein.
Allerdings soll es in der Tat Fälle geben, in denen Professoren darauf bestehen, dass in Klausuren und mündlichen Prüfungen ganz bestimmte Formulierungen möglichst wörtlich verwendet werden. Ich bin jedoch sicher, dass die meisten Professoren es vorziehen würden, wenn ein Student die Zusammenhänge wirklich verstanden und durchdacht hat. Da dies jedoch oft nicht der Fall ist und die Professoren es nicht riskieren wollen, dass ein Großteil der Studenten durchfällt, akzeptieren sie das Auswendiglernen.

Bulimielernen
Da viele Studenten mit den Inhalten, die an Universitäten gelehrt werden, intellektuell überfordert sind, verlegen sie sich auf das, was sie heute „Bulimielernen“ nennen. Als ich studierte und später mehrere Jahre an der Freien Universität lehrte, gab es diesen Begriff nicht (was nicht heißt, dass nicht auch damals schon Studenten diese Strategie verfolgten). Gibt man „Bulimielernen“ bei Google ein, erhält man 132.000 Treffer, u.a. mit Überschriften wie „Erfolgsstrategie Bulimielernen“. Offenbar scheint es zu funktionieren, denn sonst würden es nicht so viele Studenten machen. Die Schuld gebe ich den Bildungspolitikern, aber auch konfliktscheuen Professoren: Es ist halt bequemer und führt zu weniger Konflikten, wenn die meisten Studenten mit guten und sehr guten Noten durchkommen, als wenn viele das Studium nicht oder mit schlechten Noten bestehen.


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Über den Autor

Rainer Zitelmann ist einer der führenden Immobilienexperten und -netzwerker in Deutschland.