Wutbürger – wütend auf alles

Erschienen am 28. November 2011

Die „Wutbürger“ in Stuttgart und anderswo nehmen für sich in Anspruch, „die Bürger“ zu vertreten. Mit parlamentarisch legitimierten Entscheidungen wollen sie sich nicht abfinden, mit Urteilen von Gerichten auch nicht. Sie fordern plebiszitäre Entscheidungen, aber übrigens nur zu Fragen, wo sie sich in der Mehrheit glauben. Oder hat man von den Grünen schon mal gehört, dass sie für einen Volksentscheid zu Eurobonds sind?

Jetzt hat sich gezeigt, dass die „Wutbürger“ eben keineswegs das artikulieren, was die Mehrheit der Bürger denkt und will. Fast 50% haben sich an der Volksabstimmung beteiligt – ein ungewöhnlich hoher Prozentsatz – und 58,8% waren für den Bau von Stuttgart 21. Die „Wutbürger“ haben jedoch bereits angekündigt, dass sie auch dieses Ergebnis nicht akzeptieren und ihren „legitimen Widerstand“ fortsetzen wollen. Überall in Deutschland ist Stuttgart 21. Derzeit werden allein 53 Infrastrukturprojekte mit einem Volumen von 46 Mrd. Euro blockiert, so eine Erhebung des Hauptverbandes der Deutschen Bauindustrie. In Baden-Württemberg blockieren Bürgerinitiativen das Pumenspeicherkraftwerk in Atdorf/Schwarzwald mit einem Investitionsvolumen von einer Mrd. Euro. Die Rheinbrücke Karlsruhe-Wörth mit einem Investitionsvolumen von 90 Mio. Euro wird ebenfalls von Bürgerinitiativen blockiert, ebenso wie die Rheintalbahn mit einem Investitionsvolumen von 5,7 Mrd. Euro. In Bayern wird seit 34 Jahren die wichtige A 94 Isentalautobahn von Bürgerinitiativen verhindert, obwohl alle Rechtswege längst ausgeschöpft sind. Damit will man sich ebenso wenig abfinden wie mit dem geplanten Bau der B15 Landshut-Rosenheim oder mit der B26 Westumgehung Würzburg. Die drei Projekte haben zusammen ein Volumen von 1,2 Mrd. Euro. Die Liste ließe sich fast endlos fortsetzen.

Die Medien erwecken gerne den Eindruck, „ganz normale Bürger“ fühlten sich übergangen und bildeten die Speerspitze des Protestes gegen Stuttgart 21 und andere Projekte. Fernsehinterviews sollen suggerieren, dass es sich nicht um linke Berufsprotestler und Alt68er handelt, sondern vornehmlich um biedere Schwaben. Die biederen Schwaben haben nun jedoch ganz klar für das Projekt votiert.

Die Stuttgart 21-Gegner sind tatsächlich häufig genau jene Wutbürger, die eigentlich wütend auf alles sind – auf die Finanzmärkte ebenso wie auf Autobahnen, auf Bahnhöfe ebenso wie auf Flughäfen, auf Atomkraftwerke ebenso wie auf Einkaufszentren, auf die Gentechnik ebenso wie auf die Deutsche Bank.

Es gibt kein größeres Projekt mehr in Deutschland, das nicht Gegenstand des Protestes wäre. Projektentwickler müssen immer mehr Spezialisten für den Umgang mit „Anspruchsgruppen“ sein, die nicht bereit sind, parlamentarische Entscheidungen oder Entscheidungen von Gerichten zu akzeptieren.

Dabei ist es natürlich völlig legitim, anderer Meinung zu sein. Aber legitimiert das auch, über Monate eine ganze Stadt lahmzulegen oder – wie jetzt bei den Castor-Protesten – Millionen-Ausgaben für Polizeieinsätze zu verursachen?

Unser demokratischer Rechtsstaat beruht darauf, dass bestimmte Regeln und Verfahrensweisen eingehalten und akzeptiert werden. Die „Wutbürger“ lassen dies nicht gelten, weil sie beanspruchen, eher als Parlamente oder Gerichte für „die Bürger“ zu sprechen. Bei der Abstimmung gestern in Stuttgart wurde dieser Anspruch widerlegt.

Über den Autor

Rainer Zitelmann ist einer der führenden Immobilienexperten und -netzwerker in Deutschland.

0 Comments

Add comment

Leave a Reply

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

*