Orwell lässt grüßen: Wie hoch ist der Spitzensteuersatz?

Erschienen am 21. Juni 2017

Ich ärgere mich, weil die Medien die Dinge nicht mehr beim Namen nennen, sondern sich an den von der Politik geprägten Orwell’schen Sprachgebrauch angepasst haben. Jedes Mal, wenn ich lese, der Spitzensteuersatz liege bei 42 Prozent, sehe ich, dass wieder jemand der bewussten Sprachverwirrung auf den Leim gegangen ist.

Früher einmal wurde mit dem Begriff „Spitzensteuersatz“ genau das bezeichnet, was der Wortbedeutung entspricht, nämlich der Höchststeuersatz in der Einkommensteuer. Es gibt nur eine Spitze – oberhalb der Spitze gibt es sprachlogisch nichts mehr, sonst wäre die Spitze keine Spitze. Dann begannen die Politiker mit der Sprachverwirrung.

Erster Teil der Sprachverwirrung:
Seit 1991 gibt es den sogenannten Solidaritätszuschlag, der ursprünglich als vorübergehende Abgabe zur Finanzierung der deutschen Einheit gedacht war. Inzwischen gibt es den Soli seit mehr als einem Vierteljahrhundert. Und wenn wir ehrlich rechnen, müssen wir, wenn wir vom Spitzensteuersatz sprechen, natürlich den Soli dazurechnen – so lange, wie er erhoben wird. Also: Jede Angabe des „Spitzensteuersatzes“ ohne den Soli mit einzuberechnen, ist Augenwischerei. Dies gilt besonders für historische Vergleiche, wie sie von Politik und Medien gerne angestellt werden. Denn da werden z.B. Spitzensteuersätze aus den 80er Jahren, als es noch keinen Soli gab, mit dem heutigen Wert verglichen, der jedoch dann ohne Soli (und damit zu niedrig) angegeben wird.

Zweiter Teil der Sprachverwirrung:
Seit 2007 gibt es die sogenannte „Reichensteuer“. Anders als der Begriff es nahelegt, handelt es sich jedoch keineswegs um eine eigene Steuer, sondern lediglich um eine Erhöhung des Einkommensteuersatzes für höhere Einkommen. In Wahrheit handelte es sich also um nichts anderes als um eine Erhöhung des Spitzensteuersatzes. Nur, dass es fortan zwei Begriffe gab: Mit „Spitzensteuersatz“ wurde nun der Steuersatz von 42% bezeichnet, mit „Reichensteuer“ jener von 45%. Letzterer galt ab einem zu versteuernden Einkommen von 250.000 Euro, wobei dieser Betrag in der Folgezeit nach oben angepasst wurde. Die Politik nannte fortan den neuen Spitzensteuersatz nicht mehr Spitzensteuersatz, sondern wählte ein anderes Wort („Reichensteuer“), weil sich damit leicht Vorurteile und Sozialneid mobilisieren lassen, so dass der neue, erhöhte Spitzensteuersatz nun schon sprachlich als Gebot der „sozialen Gerechtigkeit“ erschien. So wie der Begriff „Soli“ eine Steuererhöhung positiv „verkaufen“ sollte (Solidarität wird von den meisten Menschen positiv empfunden), so sollte der Begriff „Reichensteuer“ eine Steuererhöhung legitimieren, indem Sozialneid-Assoziationen bei Steuerzahlern erweckt werden, die nicht reich sind.

So wird der Spitzensteuersatz korrekt berechnet
Ich bleibe dabei: Der Spitzensteuersatz ist der Höchststeuersatz, den jemand in der Einkommensteuer zu entrichten hat. Und so wird er berechnet: 45% plus 2,475% (das sind 5,5% von 45%) = 47,48 Prozent (aufgerundet).

Orwell lässt grüßen
Lassen Sie sich also nicht täuschen, wenn Sie in der Zeitung lesen, der Spitzensteuersatz liege bei 42%. Wer das schreibt, ist dem bei Politikern beliebten Orwell’schen Neusprech aufgesessen, mit dem Sachverhalte sprachlich verschleiert und beschönigt werden sollen. In Wikipedia lesen wir:

Neusprech (englisch Newspeak) heißt die sprachpolitisch umgestaltete Sprache in George Orwells dystopischem Roman 1984. Durch Sprachplanung sollen sprachliche Ausdrucksmöglichkeiten beschränkt und damit die Freiheit des Denkens aufgehoben werden… Neusprech wird im übertragenen Sinne als Bezeichnung für Sprachformen oder sprachliche Mittel gebraucht, die durch Sprachmanipulation bewusst verändert werden, um Tatsachen zu verbergen und die Ziele oder Ideologien der Anwender zu verschleiern.“

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Über den Autor

Rainer Zitelmann ist einer der führenden Immobilienexperten und -netzwerker in Deutschland.