Warum wir Risiken so gerne verdrängen

Erschienen am 25. August 2014

Viele Vermögende haben zunehmend Angst, dass das „dicke Ende“ bei der Finanzkrise erst noch kommt. Vergangene Woche traf ich den legendären Investor Jim Rogers, der sich Gedanken macht, mit welcher Art von Goldmünzen man bezahlen kann, wenn das Finanzsystem zusammenbricht – oder ob es eher sinnvoll sei, einen Teil seines Geldes in Briefmarken anzulegen, weil die leichter transportierbar sind. Vom „end of the world“ war bei diesem Abendessen oft die Rede und ich fand mich auf einmal in der für mich ungewohnten Position, zu argumentieren, ganz so schlimm werde es schon nicht kommen.

Ich fühle in mir oft einen Zwiespalt zwischen dem, was ich gerne glauben möchte und dem, was eine Aneinanderreihung der Fakten und eine nüchterne Analyse nahelegen. Die Fakten sind unbestreitbar:

  • Keines der Probleme, die zur Finanzkrise geführt haben, ist gelöst. Alle „Rettungspakte“ etc. dienten nur dazu „Zeit zu gewinnen“, die jedoch nicht genutzt wurde. Die Jugendarbeitslosigkeit in den Krisenländern liegt teilweise bei über 50 Prozent, und der Reformwille ist in dem Moment erlahmt, als die EZB versprach, unbegrenzt Anleihen zu kaufen.
  • Die Krise wurde genau mit jenen Mitteln bekämpft, die sie verursacht haben. Das Gefährlichste ist, dass die Zinsen ihre wirtschaftspolitisch eminent wichtige Signalfunktion verloren haben, weil sie ausschließlich politisch bestimmt werden.
  • Zwar wird öffentlich nur über die Gefahren einer Immobilienpreisblase diskutiert, in Wahrheit ist die Blase jedoch allgegenwärtig: Ob Staatsanleihen oder Unternehmensanleihen – nirgendwo wird das Risiko mehr adäquat bepreist. Investoren – wie etwa Lebensversicherungen und Pensionsfonds – die ihre Versprechen gegenüber den Anlegern halten wollen, müssen dafür immer größere Risiken eingehen.
  • Der Wohlfahrtsstaat, der übrigens nicht nur in Europa und Japan, sondern – anders als die meisten Europäer dies glauben – auch in den Vereinigten Staaten zu einer riesigen Belastung für die Staatshaushalte geworden ist, wird auf Dauer so nicht funktionieren. Es ist undenkbar, dass die Staatsschulden in irgendeinem der entwickelten Industrieländer irgendwann zurückgezahlt werden können. Zwar scheint das Beispiel Japans zu zeigen, dass man auch auf Jahrzehnte mit noch sehr viel höheren Staatsschulden leben kann – aber zu welchem Preis? Wollen wir japanische Verhältnisse?
  • Die Enteignung der Sparer findet längst statt, weil die Zinsen für sichere Anlagen unterhalb der Inflationsrate liegen.

Diese Argumente stehen auf der einen Seite. Auf der anderen Seite steht der verständliche und psychologisch übermächtige Wunsch, dass es, wie in einem alten Hollywood-Film, doch noch zu einem „Happy End“ kommen möge. Dieser Wunsch ist so übermächtig, dass er bei den meisten Menschen die rationale Analyse erheblich erschwert. Wir wollen die Gefahren verdrängen, weil es unangenehm ist, sich mit negativen Szenarien und Gefahren zu beschäftigen. Weil wir uns eben bedeutend wohler fühlen, wenn wir an ein „gutes Ende“ glauben. Und deshalb suchen wir nach Bestätigungen dafür, dass alles gut werden wird:

  • Beim einfachen Mann auf der Straße ist es das Vertrauen in unsere Kanzlerin, die alles souverän richten wird und die weiß, wo es lang geht. Es ist ja alles so kompliziert, dass man froh ist, eine Kanzlerin zu haben, die offenbar souverän alles überschaut und weiß, was zu tun ist.
  • Und wie sieht es bei den Eliten aus? Unternehmer und Investoren sind von Natur aus Optimisten. Die Wirtschaft in Deutschland läuft nach wie vor toll – von Krise ist hier nichts zu spüren. Da es keine Alternative gibt zum „business as usual“, macht man weiter so. Und je länger „nichts passiert“ – also keine ausufernde Inflation, kein Bankenkrach, kein Platzen irgendeiner Blase – umso mehr Nahrung bekommt der Wunsch, der Vater des Gedankens ist: „Es wird schon alles nicht so heiß gegessen, wie es gekocht wurde.“

Ich bin auch nicht frei von diesen Hoffnungen. Als Jim Rogers – einer der klügsten und erfolgreichsten Investoren der Welt – bei unserem Abendessen in Singapur immer wieder vom „end of the world“ sprach, spürte ich, wie ich Argumente zu sammeln begann, die gegen ein solches Schreckensszenario sprechen.

Und in der Tat: Ein „Ende der Welt“ sehe ich nicht. Aber ein „Immer weiter so!“ halte ich für ebenso unwahrscheinlich. Wir alle kennen die Zukunft nicht. Doch der vorsichtige Investor sollte gewappnet sein. Es wäre naiv, die Risiken zu verdrängen.

„Risiken nicht ignorieren“ – so lautete die Überschrift meines Kommentars, den ich am 29. Januar 2007, also vor dem Ausbruch der Finanzkrise, an dieser Stelle veröffentlichte. In dem Kommentar warnte ich vor einer Finanzkrise und schrieb, man dürfe die folgenden Risiken nicht ignorieren:

  • „die galoppierende Inflation bei den Preisen von Vermögenswerten in allen Assetklassen. Sie ist im Immobilienbereich ebenso wie bei Rohstoffen, Bonds und anderen Assets zu beobachten.
  • die extrem gestiegene Risikobereitschaft der Investoren, die auf der Suche nach einigermaßen auskömmlichen Renditen bereit sind, immer höhere Risiken einzugehen. Auch dies ist im Immobilienbereich ebenso zu beobachten wie etwa bei Private Equity-Investments oder auf dem Bond-Markt. Eine aktuelle Befragung von Afire hat ergeben, dass inzwischen rund ein Drittel der Investoren auf dem US-Immobilienmarkt riskante Investments bevorzugt.
  • die extreme Staatsverschuldung, die nie mehr zurückgezahlt werden kann, sondern die bei den Staaten irgendwann die Bereitschaft steigen lassen könnte, eine Lösung in der Inflation zu suchen.
  • die Kumulation von Risiken durch den Einsatz derivativer Instrumente auf den Finanzmärkten in einem nie gekannten Ausmaß.
  • politische Risiken, für die Länder wie Korea oder der Iran stehen, aber auch mögliche Terroranschläge wie der vom 11.September 2001.
  • zuletzt ist es die enorme, überbordende Liquidität an den internationalen Finanzmärkten, die wir im Immobiliensektor ebenso spüren wie in allen anderen Märkten und die Anlass zu Sorgen gibt.
  • langfristig ist es der Kollaps der staatlichen Sozialversicherungssysteme als Folge der demografischen Entwicklung, der die ökonomische und politische Stabilität in vielen Ländern gefährdet.

Optimisten tun all diese Risiken als Angstmache von Panikpropheten und Crashgurus ab. Und genau darin liegt die größte Gefahr: In der Sorglosigkeit vieler Marktteilnehmer, die fleißig Argumente sammeln, warum wir in der besten und sichersten aller Welten lebten und die uns erklären, dass traditionelle Bewertungskennzahlen heute angeblich keine Rolle mehr spielten und es deshalb beispielsweise vernünftig sei, Immobilien selbst zum 25fachen zu erwerben. Die Tatsache, dass beispielsweise schon lange vor den Folgen der öffentlichen und privaten Verschuldung in den USA gewarnt wird und sich bislang die Warnungen nicht bestätigt haben, ist kein Argument dafür, dass sich die Risiken nicht realisieren könnten.

Was ist wahrscheinlicher: Dass die Preise der Assets auf dem gegenwärtigen Niveau bleiben oder dass sie irgendwann fallen? Dass wir in einer Welt ohne Krieg und Terror leben, oder dass es geopolitische Konflikte und dramatische Anschläge gibt? Dass sich die Bewertungen von Immobilien, Anleihen, Rohstoffen und anderen Assets wieder an langfristigen historischen Durchschnitten ausrichten oder dass sie sich dauerhaft auf dem heute hohen Niveau einpendeln werden? Dass es zu dramatischen Pleiten von großen Hedgefonds kommt oder dass solche Pleiten ausbleiben? Niemand weiß das.

Es wäre jedenfalls leichtsinnig, sich nicht auch auf Worst-case-Szenarien vorzubereiten.“

Zwischen diesem Kommentar aus dem Januar 2007 und dem heutigen Kommentar liegen die Finanz- und die Eurokrise, die die Welt tatsächlich an den Rand des Abgrunds gebracht haben. Und leider wurden diese Krisen genau mit jenen Mitteln bekämpft, die sie hervorgebracht haben, nämlich mit noch mehr billigem Geld.

Wenn ich heute schreibe, dass es deshalb logisch und folgerichtig ist, dass die Krise auf einem höheren Niveau und mit größerer Kraft wieder ausbrechen wird, dann hoffe ich nichts mehr, als dass ich damit Unrecht behalte. Denn lieber behalte ich Unrecht und behalte mein Vermögen, als dass ich Recht behalte und es verliere. Deshalb verstehe ich jeden, der die Risiken weiterhin lieber verdrängt als ihnen ins Auge zu schauen.

Aber auch die geopolitischen Risiken sind nicht geringer geworden, seit ich diesen Kommentar damals veröffentlicht habe. Im Gegenteil. Meine an dieser Stelle häufiger geäußerte Meinung, dass Obama der schwächste Präsident der jüngeren US-Geschichte ist, hat sich leider bitter bewahrheitet. Selbst seine ehemalige Außenministerin warnt heute vor der außenpolitischen Naivität des US-Präsidenten. Dessen Schwäche hat nicht nur Putin ermuntert, sondern ermuntert auch die Nordkoreaner, die Iraner, das syrische Regime und andere gefährliche Kräfte.

Eine brisante Mischung finanzpolitischer und geopolitischer Risiken ist der Stoff, aus dem die nächste große Krise gemacht sein wird. Die Politiker werden von ihrer Verantwortung ablenken und als Sündenbock auf „die Reichen“ zeigen. Die breite Masse soll beruhigt werden, indem man „die Reichen“ schröpft und damit von den politischen Ursachen der Krise ablenkt.

Über den Autor

Rainer Zitelmann ist einer der führenden Immobilienexperten und -netzwerker in Deutschland.