Wie viele Nadeln gibt es im Heuhaufen?
Oder: Wenn alle „selektiv“ kaufen

Erschienen am 16. Juli 2016

In Phasen der Überhitzung an den Märkten neigen die Marktteilnehmer dazu, sich selbst zu betrügen. „Ja, der Markt ist zu teuer, aber wir kaufen sehr selektiv, wir suchen die Nadel im Heuhafen.“ Je häufiger Sie solche Statements hören, umso misstrauischer und vorsichtiger sollten Sie werden.

Haben Sie auch schon häufiger von Investoren am Aktien- oder Immobilienmarkt die Aussage gehört, man kaufe jetzt „selektiv“ oder „sehr selektiv“? Nonsense-Aussagen erkennt man daran, dass die gegenteilige Aussage offensichtlicher Blödsinn wäre. Hat man früher nicht „selektiv“ gekauft? Das hieße ja, man habe vorher blind und unkritisch alles gekauft, was man angeboten bekommen hat und nun sei man erst dazu übergegangen, eine Auswahl (= Selektion) zu treffen. Die Formulierung vom „selektiven“ Kauf ist offenbar nur eine hilflose Rechtfertigung dafür, dass man überhaupt noch kauft.

Ebenso ist es mit der Formulierung, man suche eben nach den „Nadeln im Heuhaufen“. Wie viele Nadeln gibt es denn im Heuhaufen? Offenbar findet jeder ganz viele Nadeln, denn sonst wäre das Transaktionsvolumen ja nicht so hoch. Die Formulierung von der „Nadel im Heuhafen“ soll – ebenso wie die Formulierung von den „selektiven“ Käufen – suggerieren, dass man auch in Zeiten, wo alles sehr, sehr teuer sei, immer noch günstige und attraktive Angebote finde. Wer sind denn bei einem solchen „Nadel im Heuhaufen-Deal“ die Verkäufer? Offenbar Dummköpfe, die viel zu billig verkaufen. Und warum sollten sie das tun? Gibt es so viele Menschen, die das aktuelle Preisniveau komplett ignorieren? Haben diese Menschen keinen Internetanschluss?

Ich bestreite nicht, dass man hier und da auch mal auf einen solchen Verkäufer stoßen kann. Doch wenn in einer Marktsituation auf einmal fast jeder Käufer erklärt, er suche und finde die „Nadel im Heuhaufen“, dann sollte man skeptisch werden. Kann es denn wirklich ein systematisches Geschäftsmodell sein, darauf zu bauen, dass man permanent Idioten und Ignoranten findet, die bereit sind, zu marktfernen Preisen zu verkaufen?

Diejenigen, die auch in einem sehr teuren Markt kaufen, finden kurzfristig die Bestätigung dafür, weil die Preise weiter steigen. Wer aus einem teuren Markt aussteigt, muss sich dagegen damit abfinden, dass er möglicherweise viele Monate oder sogar Jahre passiv an der Seite stehen wird und zuschauen muss, wie die Preise weiter steigen. Besonders bedauerlich sind diejenigen, die eine zeitlang zuschauen, weil sie merken, dass es zu teuer geworden ist, dann jedoch zu noch viel höheren Preisen kaufen, weil sie irgendwann nicht mehr die Nerven haben, weiter zuzuschauen, wie die Preise steigen.

Viele Marktteilnehmer kaufen nicht auf eigene Rechnung, sondern mit dem Geld anderer Leute. Für sie ist der Druck besonders hoch, wenn sie „zu früh“ aus dem Markt aussteigen und ihnen ihre Geldgeber vorhalten, dass die Preise weiter steigen und sie nicht davon partizipieren. Daher ist es folgerichtig, dass die Meisten bei dem Spiel weiter mitspielen: Täten sie es nicht, würde man ihnen den Vorwurf machen, sie seien viel zu pessimistisch und würden dadurch Geld verlieren. Wenn es hinterher aber schiefgeht, weil sie zu teuer eingekauft haben und dann große Wertberichtigungen vornehmen müssen, dann können sie sich damit herausreden, alle anderen hätten ja ähnlich gehandelt und vor Markteinbrüchen sei man nun einmal nicht gefeit.

Da zunehmend weniger Produkte zu einigermaßen angemessenen Preisen zur Verfügung stehen, erhöhen die Kaufwilligen sukzessive das Risiko. Wer etwa seinen Investoren eine Rendite von 5 Prozent versprochen hat, aber nur noch zum 25 oder gar 30fachen einkaufen kann, der fängt plötzlich an und kauft Assets, die er bisher wegen (wirklich oder vermeintlich) zu hohem Risiko nicht einmal angeschaut hätte. Diese sind natürlich auch im Preis ganz erheblich gestiegen, aber eben noch zum 17- oder 18fachen verfügbar. Was eben noch als viel zu riskant abgelehnt wurde, gilt nun auf einmal als hoch attraktives Schnäppchen (= Nadel im Heuhaufen). Das Gesetz der steigenden Risikotoleranz in Phasen der yield-compression kann man an den Anleihemärkten ebenso beobachten wie an den Aktien- oder Immobilienmärkten.

Institutionelle Investoren haben meist keine andere Wahl – sie müssen stets weiter kaufen, egal wie teuer der Markt ist. Da es sich hier meist um Angestellte handelt, die mit dem Geld anderer Leute arbeiten, ist es für sie nicht so schlimm. Wenn sich später herausstellt, dass sie viel zu teuer gekauft haben, können sie sich damit herausreden, dass „alle“ anderen ebenso teuer gekauft hätten. „Ich war es nicht, das war der Markt.“ Da es nicht ihr eigenes Geld ist und sie keine negativen Konsequenzen zu befürchten haben, handeln sie im Grunde genommen rational, wenn sie weiter zu teuer kaufen.

Private Anleger haben die Wahl und könnten auch aussteigen und nichts tun. Ein privater Investor erklärte mir neulich, dass er mit eigenem Geld nichts mehr dazu kaufe, weil er den Markt als überhitzt empfinde. Stattdessen sei er dazu übergangen, nur noch im Auftrag Dritter einzukaufen, wobei er dann nur am möglichen Upside verdiene. Er habe damit alle Chancen, wenn der Markt weiter nach oben gehe und keinerlei Risiko, wenn es schiefgehe.

Die meisten Unternehmer und Investoren sind stolz, wie ungeheuer optimistisch sie sind. Optimismus gilt als Tugend, Pessimismus als Schimpfwort. „Der einzige Mist, auf dem nichts wächst, ist der Pessimist.“ Aus der Forschung der Behavioral Economics wissen wir jedoch, dass Überoptimismus eine verbreitete kognitive Verzerrung ist, die vielleicht den größten Schaden anrichtet. Nur: Der Schaden wird meist nach außen nicht sichtbar. Der Grund dafür ist, dass es immer wieder Optimisten gibt, die Glück mit dem Timing haben und später dann berichten, wie sehr sich ihr grenzenloser Optimismus ausgezahlt habe. Die Optimisten, die ihr Geld verlieren, schweigen dagegen lieber und kaum jemand interessiert sich für ihre traurige Geschichte – aus der man jedoch viel lernen könnte.


24 Besprechungen, Interviews und Artikel zu Rainer Zitelmanns aktuellem Buch "Reich werden und bleiben": http://www.reichwerdenundbleiben.net/

Über den Autor

Rainer Zitelmann ist einer der führenden Immobilienexperten und -netzwerker in Deutschland.