Buchtipp: Die infantile Gesellschaft

Erschienen am 1. Oktober 2020

„Der Wumms ist schon spürbar“, sagte Vizekanzler und Bundesfinanzminister Olaf Scholz kürzlich dem Nachrichtenportal „The Pioneer“ bei der Vorstellung neuer Wirtschaftszahlen. Es werde anerkannt, dass die Bundesregierung mit Konjunkturprogramm und zwei Nachtragshaushalten „so schnell so groß gehandelt“ habe. Scholz bezog sich mit dem „Wumms“ auf eine eigene Äußerung: „Wir wollen mit Wumms aus der Krise“ kommen, hatte er gesagt, und so lautet auch die Überschrift auf der offiziellen Seite der Bundesregierung.
Ursula von der Leyen, Präsidentin der Europäischen Kommission, brachte einen ihrer ersten Beiträge zur Corona-Krise in Form eines Videos, in dem sie uns allen ausführlich erklärte, wie man sich die Hände richtig wäscht – dabei die Europahymne summend. Angela Merkel, die den Bürgern zunächst sagte, Masken seien nutzlos (wohl deshalb, weil es keine gab), erklärte wenig später genau, wie man sie benutzt: „Sie müssen regelmäßig gewaschen werden beziehungsweise gebügelt, in den Backofen gelegt oder in die Mikrowelle.“ Der Berliner Senat brachte jüngst eine Broschüre mit 47 Seiten heraus, in der den Bürgern genau erklärt wird, wie sie sprechen sollten und wie nicht – also dass man beispielsweise den Begriff „Schwarz fahren“ nicht mehr verwenden dürfe.
Christian Lindner kritisierte im April 2020, er habe manchmal den Eindruck, „die Regierung spricht zu ihrem Souverän – den Bürgerinnen und Bürgern – wie zu Kindern…“ (S. 211). Zeichen für die Infantilisierung der Gesellschaft gibt es also viele, und Alexander Kissler, ehemals Redakteur des „Cicero“ und jetzt bei der „Neuen Zürcher Zeitung“ hat ein bemerkenswertes Buch darüber geschrieben. Schon Aldous Huxley, so lernen wir, analysierte, wie das Kind als Begriffsjoker im Gespräch unter Erwachsenen verwendet werde (S. 34). Ein Beispiel dafür ist die Greta-Bewegung. Es geht heute nicht mehr etwa nur darum, auch Kindern zuzuhören, sondern die Gewissheit verbreitetet sich im öffentlichen Diskurs: „Das Kind hat recht, weil es Kind ist, und wer es anders sieht, der mag keine Kinder.“ (S.88). Es sind die Kinder von heute, die geborenen und ungeborenen Enkel, es sind die zornigen Mädchen, auf die man sich beruft, denen man nicht nur zuhören, sondern denen man bedingungs- und vor allem widerspruchslos folgen muss. „Erwachsene zucken zusammen, verfallen in innere Habachtstellung, in sofort zerknirschte Duldungsstarre.“ (S. 89)
Kinder gelten als überlegen, weil sie nicht korrupt seien, sich nicht auf taktische Spielchen einließen, weil sie keine Opportunitätskosten berücksichtigten. Dies zumindest sei die „große Hoffnung der Erwachsenen, die sich auf Kinderaugenhöhe beugen“ (S. 96). Zu Unrecht, so Kissler, berufen sich diejenigen, die so denken, auf den Schweizer Philosophen, Jean-Jacques Rousseau. Er schrieb zwar in seinem Émile: „Liebet die Kindheit, begünstigt ihre Spiele, ihre Vergnügungen, ihren liebenswürdigen Instinkt.“ (S. 23) Aber er meinte auch, es gebe kaum „etwas Abstoßenderes und Unnatürlicheres als den Anblick eines gebieterischen und eigensinnigen Kindes, welches seiner ganzen Umgebung Befehle erteilt“. (S. 90 f.) Anders als zu den Zeiten Rousseaus erscheint das Kind heute als richtende Instanz. „Die heutigen Vulgärrousseauisten wollen sich erziehen lassen zum Kind durch das Kind.“ (S. 91).
Greta, das Mädchen mit den Zöpfen, wurde von deutschen Bischöfen mit David verglichen, dem Helden und König Israels und die Freitagsdemos mit der biblischen Szene vom Einzug Jesu in Jerusalem (S. 92). Die Grünen-Politikerin Katrin Göring-Eckardt meinte, Greta erinnere sie an eine Stelle aus dem Prophetenbuch Amos (S. 93).
Die Infantilisierung ist jedoch kein deutsches Phänomen, sondern ein weltweites, schließlich traf sich Greta mit Barack Obama, wurde von EU, Davos und der UN eingeladen, und der UN-Generalsekretär Gueterres pries ihren Weckruf. Warum, fragt Kissler, wurde Greta bei den Vereinten Nationen nicht widersprochen? „Weil Emotionen angeblich Authentizität verbürgen, und nach nichts sehnt eine spätmodern erkaltete Gesellschaft sich mehr als nach Authentizität.“ (S. 104). Kindermund tut jedoch nicht immer Wahrheit kund – das, so Kissler, wissen jene Erwachsenen am besten, die sich eine realistische Erinnerung an ihre eigene Kindheit bewahrt haben.
Man könnte hinzufügen: Donald Trump ist in dieser Hinsicht Greta nicht unähnlich. Oliver Luksic hat unlängst beide in einem lesenswerten Buch verglichen. Trump redet in einer einfachen Sprache, die auch ein Kind verstehen kann. Das kommt offenbar bei vielen gut an. Er wird schnell zornig, ist sofort beleidigt, lässt seine Gesprächspartner nicht aussprechen und hat beim Lügen kein schlechtes Gewissen. Andererseits: Er sagt, was er denkt, und wirkt dadurch gerade wieder authentischer als die anderen Politiker mit ihren Sprechblasen der politischen Korrektheit.
In den USA und Großbritannien sind die Universitäten ein Hort der Infantilisierung, denn dort werden Klassiker gereinigt, Bücher mittels „trigger warnings“ abgemildert (S. 132) und Professoren müssen Warnungen an die Studentenschaft aussprechen, bevor sie in Vorlesungen etwas sagen, das ihre zarten Seelen verletzen und traumatische Schocks auslösen könnte.
Dass wir heute überall geduzt werden und sich fast alle Parteien angewöhnt haben, ihre Wähler und Mitglieder mit „Du“ anzusprechen (nicht mehr nur von Genosse zu Genosse) ist mir schon lange übel aufgestoßen. Ich habe manchmal Verwunderung geerntet, wenn mir YouTuber vor Beginn eines Interviews die nur rhetorisch gemeinte Frage stellten, ich hätte doch bestimmt nichts dagegen, geduzt zu werden, weil das hier so üblich sei – und ich daraufhin meinte, ich wolle lieber gesiezt werden.
Selbst die Namen von Gesetzen ähneln immer mehr der Kindersprache: Da gibt es das „Gute-Kita-Gesetz“, das „Starke-Familien-Gesetz“ oder das „Arbeit-von-morgen-Gesetz“ (S. 217). Die Infantialisierung der Sprache ist indes nicht neu, sie wurde schon in den 80er Jahren maßgeblich von „Alternativen“ befördert, deren Wortschatz dann zunehmend zum Wortschatz des Mainstreams wurde. Fragt man Politiker oder Vorstandsvorsitzende heute, wenn sie eine neue Aufgabe übernehmen, was ihr Motiv gewesen sei, dann antworten sie gerne, dass sie sich auf eine „spannende Aufgabe“ freuten, etwa so, wie Kinder sich auf eine „spannende“ Geschichte freuen.
Alexander Kissler hat – wieder einmal – ein kluges und wichtiges Buch geschrieben, eine kritische Zeitdiagnose. Wer das Buch gelesen hat, wird jeden Tag neue Beispiele dafür finden, die bestätigen, wie Recht er hat. In einer Hinsicht erinnert er mich selbst an ein Kind, und zwar an das Kind aus dem Märchen, das sagt: „Der Kaiser ist nackt!“

Alexander Kissler, Die infantile Gesellschaft. Wege aus der selbstverschuldeten Unreife, Harper Collins, Hamburg 2020, 255 Seiten.

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