Buchtipp: Wie der Wohlstand in die Welt kam

Erschienen am 3. Mai 2021

Deirdre Nansen McCloskey, Art Carden, Leave Me Alone and I’ll Make you Rich. How the Bourgeois Deal Enriched the World, The University of Chicago Press, Chicago and London 2020, 227 Seiten.

Eines Tages, es war in den 1890er Jahren, kam ein Sozialist in das Büro des superreichen Stahlmagnaten Andrew Carnegie und verlangte, dass die Reichen ihren Reichtum an die Armen dieser Welt verteilen sollten. Carnegie bat daraufhin seinen Assistenten, sein aktuelles Vermögen zu schätzen und es dann durch die Anzahl der Menschen auf dieser Welt zu teilen. Der Assistent kehrte kurz darauf mit den Zahlen zurück und Carnegie sagte ihm: „Give this gentleman sixteen cents. That’s his share of the wealth.“

Ob sich das wirklich so zugetragen hat, wissen wir nicht. Das ist eine von mehreren schönen Anekdoten, die dieses wissenschaftliche Buch so unterhaltsam machen. Eine andere: In den 1930er Jahren kam ein alter Freund zu dem Komiker Groucho Marx und sagte ihm: „Groucho, I desperately need a job. You have contacts.“ Der Freund war ein Kommunist, und aus Sicht der Kommunisten war jedes Beschäftigungsverhältnis Ausbeutung. Daher entwortete Groucho Marx: „Harry, I can’t. You’re my dear Communist friend. I don’t want to ‘exploit’ you.”

Das Buch ist mit solchen Anekdoten gewürzt, aber es geht um eine ernste Fragestellung: Wie kam der Wohlstand in die Welt? Nachdem sich in den über Jahrtausende statischen Gesellschaften nur wenig am Lebensstandard geändert hatte, entstand im 18./19. Jahrhundert der Kapitalismus, der zu einer geradezu dramatischen Verbesserung der Lebensverhältnisse für die Menschen führte. Die Autoren meiden jedoch das Wort „Kapitalismus“, das sie für einen polemischen Ausdruck linker Denker halten. Sie sprechen von „Liberalism“ und „Innovism“ – diese Begriffe seien zutreffender.

Sklaverei und Kolonialismus nicht die Wurzeln des Kapitalismus

Ich werde hier dennoch das Wort „Kapitalismus“ verwenden, denn im Kern geht es in diesem Buch darum, wie der Kapitalismus entstand. Die Autoren setzen sich mit zahlreichen gängigen Erklärungen auseinander, aber finden keine davon überzeugend. Privateigentum und Rechtsstaat etwa habe es schon früher gegeben, deshalb seien dies zwar notwendige, aber nicht hinreichende Bedingungen. Ähnlich verhalte es sich mit der Entwicklung der Wissenschaften, die zwar sehr wichtig seien, aber die eher eine Folge als eine Ursache der wirtschaftlichen Änderungen waren: „High science was more a result of economic growth than a cause.“ Wissenschaftliche Durchbrüche seien damals eher eine Folgeerscheinung als die Ursache von technologischem Wandel gewesen.

Auch die heute modischen Erklärungen, der Kapitalismus habe auf Sklaverei und Kolonialismus beruht, könnten nicht überzeugen: Sklaverei gab es schon seit Jahrtausenden, und wenn die Profite aus Sklaverei die Ursache für die Entstehung des Kapitalismus gewesen wären, dann hätte er nicht in Holland und Großbritannien entstehen dürfen, sondern in China – oder vielleicht in Brasilien, das viel mehr Sklaven aus Afrika ausbeutete als Nordamerika.

Und schon der Ökonom Thomas Sowell habe darauf hingewiesen, dass „14 million African slaves were taken across the Sahara Desert or shipped through the Persian Gulf and other waterways to the nations of North Africa and the Middle East, compared with some 11 million Africans shipped across the Atlantic“.

Und warum sollten gerade die Gewinne aus der Sklaverei entscheidend gewesen sein für die Finanzierung der Industrialisierung? „If the profits, such as they were, of the trade are judged crucial, why not the profits from, say, the pottery industry, of similar magnitude, or from retail trade, much larger? What makes shameful profits more efficacious for the Great Enrichment than honourable ones? (The reason seems to be the desire to see ‘capitalism’ anyway as born in sin.)”

Auch die heute beliebte Erklärung, der Kapitalismus habe seine Wurzel im Kolonialismus, sei falsch. Portugal und Spanien, die ersten imperialistischen Mächte mit Kolonien von Mexiko bis Macao, waren zu dem Zeitpunkt, als der Kapitalismus entstand, die ärmsten in Westeuropa. Und Länder wie Schweden und Österreich wurden auch ohne bedeutende überseeische Kolonialbesitztümer reich.

Die Bedeutung von Ideen

Die Autoren stellen dar, dass aus ihrer Sicht ein Wandel in „ethics and rhetoric and ideology“ der wahre Grund für die Entstehung des Kapitalismus gewesen seien. Die Autoren drehen die Logik von Marx um, nach der das Sein das Bewusstsein bestimme. Nein, es sei umgekehrt: Ein Wandel in der Ideologie sei die Basis für all die revolutionären Änderungen gewesen, die der Kapitalismus brachte.

Freilich darf man sich das nicht so vorstellen, dass Adam Smith ein Buch schrieb und dessen Ideen dann von klugen Politikern implementiert wurden. Der Kapitalismus entstand vielmehr, dies hat Hayek gut erklärt, als spontane Ordnung – etwa so, wie Sprachen oder Pflanzen entstehen. Die Bedeutung von Ideen, so meine Meinung, liegt eher darin, dass man das spontane Wachstum nicht mehr verhindert – wie dies Herrscher und Staaten zuvor getan hatten. In meinem Buch „Kapitalismus ist nicht das Problem, sondern die Lösung“, habe ich dies am Beispiel Chinas gezeigt: Dort entwickelte sich der Kapitalismus zuerst spontan, in ländlichen Regionen. Die Bedeutung von Ideen und Politik lag darin, dass Deng XiaoPing die Parole ausgab „Lasst erst einmal einige reich werden“ – und fortan die spontanen Prozesse nicht mehr blockiert, sondern zugelassen wurden.

Die Autoren räumen auch mit vielen Legenden auf, so etwa über die unerträglichen Zustände im Frühkapitalismus. Die Industrialisierung und Verstädterung habe mehr zur Überwindung als zur Entstehung der Armut beigetragen. Am Beispiel Frankreichs zeigen sie, wie verbreitet der Hunger in den ländlichen Regionen Frankreichs vor dem Beginn der Industrialisierung war. Und auch die Legende, die Lebensbedingungen der Menschen im 19./20. Jahrhundert seien vor allem durch die Arbeiterbewegung, die Gewerkschaften und den Wohlfahrtsstaat verbessert worden, widerlegen die Autoren. Die Verbesserung der Lebensbedingungen sei primär eine Folge der gestiegenen Produktivität gewesen und nicht einer Umverteilung des Reichtums durch den Wohlfahrtsstaat.

Das besondere Verdienst der Autoren ist es, dass sie nicht theoretisch argumentieren, so wie viele Ökonomen heute, sondern historisch: Mit einer erstaunlichen Faktenfülle und großer Geschichtskenntnis widerlegen sie viele weit verbreitete Legenden – und dies tun sie in einer unterhaltsamen Weise, die das Buch zu einem Lesevergnügen macht.

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