„Dr.Dr. mit Dr.Dr.“: Ein kritisches Gespräch zum Thema „Selbstvermarktung“

Erschienen am 31. August 2020

Die Interviews von „Dr.Dr.“ mit „Dr.Dr.“ sind stets etwas Besonderes. Zwei Doppel-Doktoren im kontroversen Gespräch: Stefan Groß spricht mit Rainer Zitelmann – und es geht um viel mehr als nur um Selbstvermarktung.

Groß: Lieber Herr Zitelmann, Sie haben ein neues Buch geschrieben, wieder eins muss man wohl sagen: „Die Kunst berühmt zu werden“. Darin haben sie viele Künstler, Politiker Personen des öffentlichen Lebens genial porträtiert. Nun leben wir in einer etwas eiligen Gesellschaft, die immer weniger Bücher konsumiert. Wie würden Sie ihr Buch in einer zunehmend oberflächlichen Welt selbst selbstvermarkten?

Zitelmann: Ich habe das Buch ganz gut vermarktet: Zwei Tage vor Erscheinen brachte die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung eine ganze Seite über das Buch, und ich wurde dazu in SAT1 und von mehreren Rundfunksendern interviewt. Mit diesem Buch habe ich jenseits der Medien, in denen ich sonst schreibe bzw. die über mich schreiben, auch Interviews mit Medien geführt, mit denen man als Intellektueller sonst nicht in Berührung kommt: Die Bunte hat gleich drei Interviews dazu veröffentlicht, und es gibt kaum eine Frauenzeitschrift, die nicht berichtet hat – von Grazia bis Für Sie und OK! Magazin. Manche rümpfen darüber die Nase. Ich bin stolz, dass ich im gleichen Monat einen wissenschaftlichen Fachaufsatz in einer der führenden Ökonomie-Zeitschriften Europas veröffentlicht und der Bunten Interviews gegeben habe. Und jetzt führe ich dieses Interview mit Ihnen.

Groß: Der Untertitel Ihres Buches heißt „Genies der Selbstvermarktung von Albert Einstein bis Kim Kardashian. Was bei letzterer auffällt, dass sie diese wie Arnold Schwarzenegger, Madonna, Muhammad Ali, Prinzessin Diana in die Genius-Ebene verschieben. Haben wir beide einen unterschiedlichen Begriff von Genie? Oder setzten die Selbstvermarktung mit Genius gleich? Damit torpedieren sie den klassischen Begriff und degradieren diesen zu einer Eitelkeit des Marktes!

Zitelmann: Nun, alle diese Personen waren genial in der Kunst der Selbstvermarktung. Ich finde es falsch, nur Intellektuelle oder Erfinder als genial zu bezeichnen. Man kann auf verschiedenen Gebieten genial sein – und auch PR ist eine Kunst. Nehmen Sie einen der Porträtierten in meinem Buch, Stephen Hawking. Hawking war ein großer Wissenschaftler, aber er bekannte selbst: „Für meine Kollegen bin ich nur ein Physiker unter vielen anderen, doch für die Öffentlichkeit wurde ich womöglich zum bekanntesten Wissenschaftler der Welt.“ Und was Hawking sagte, ist richtig: Für seine Fachkollegen war er keineswegs der Ausnahme-Wissenschaftler, als den ihn die Öffentlichkeit wahrnahm. In einer Umfrage des Magazins „Physics World“ um die Jahrtausendwende waren sie weit davon entfernt, ihn den zehn wichtigsten lebenden Physikern zuzurechnen. Die Öffentlichkeit – und vermutlich auch er selbst – sah Hawking wohl eher so wie in einer Folge der Serie „Raumschiff Enterprise“, wo er als Gaststar an einer virtuellen Pokerrunde mit Isaac Newton und Albert Einstein teilnahm. Ich zeige in meinem Buch, dass Hawking nicht durch seine wissenschaftlichen Erkenntnisse berühmt wurde, sondern dadurch, dass er viel Zeit, Energie und Ideen in seine Selbstvermarktung und PR für seine Bestseller investierte.

Groß: Bei Albert Einstein, den ich als Genie verorten würde, argumentieren Sie genau in die andere Richtung. Nicht die Relativitätstheorie habe den Ausnahmeathleten der Wissenschaft zum Erfolg verholfen, sondern seine gezielte Selbstvermarktung, offenes Haar inklusive? Nun mag er eine geniale Frisur gehabt haben, aber hinter der Frisur war der Geist, der sich eben nicht, zumindest bei Einstein oder auch Steven Hawkings die Behinderung nicht frisieren lässt?

Zitelmann: Einstein ist ein wunderbares Beispiel. In einem Interview mit der „New York Times“ stellte Einstein sich selbst die Frage: „Woher kommt es, dass mich niemand versteht und jeder mag?“ In einem Gespräch mit einem anderen Journalisten gab er die Antwort: „Ob es einen lächerlichen Eindruck auf mich macht, die Aufgeregtheit der Menge für meine Lehre und meine Theorie, von der sie doch nichts versteht, zu beobachten? Ich finde es komisch und zugleich interessant, dieses Spiel zu beobachten. Ich glaube bestimmt, dass es das Geheimnisvolle des Nichtbegriffenen ist, das sie bezaubert.“ 99,99% der Menschen, einschließlich Ihnen und mir, können doch die Relativitätstheorie und deren Bedeutung für die Physik gar nicht verstehen. Schon gar nicht die Menschenmassen, die Einstein in den USA zujubelten oder die Reporter von Boulevardmedien, denen er gerne Interviews gab. Daher können seine wissenschaftlichen Erkenntnisse allein auch nicht der Grund dafür sein, dass er so populär wurde, wie kein Wissenschaftler vor ihm. Einstein, das zeige ich, verwandte einen großen Teil seiner Zeit darauf, aus sich selbst eine Marke zu machen. Er hielt mehr Vorträge vor einem Massenpublikum als vor Fachkollegen. Und er inszenierte sich so sehr selbst, dass er in Amerika deshalb sogar Ärger mit der Princeton-Universität bekam, die ihn zu Forschungszwecken eingeladen hatte und sich bei ihm über die exzessive Selbstvermarktung beschwerte.

Groß: Behinderung wird gemein als Manko verstanden und nicht so sehr als Ausweis von Genialität. Behinderte sind schlecht oder wenig integriert, eben am Rande der Gesellschaft verortet. Inklusion ist in weiten Kreisen verfemt. Wie kann ein gewöhnlicher Rollstuhlfahrer oder ein Mensch mit Down-Syndrom Weltberühmtheit erlangen, doch wohl nur, um es mal polemisch zu formulieren, wenn er sich vom One World Trade Center in die Tiefe stürzt. Dann wird das medial getickert, bleibt aber für die Selbstvermarktung letztendlich irrelevant, den der schnelle Tod ist die beste Kultur des Vergessens, natürlich gibt es hier auch Gegenbeispiele wie Marilyn Monroe oder Gracia Patricia.

Zitelmann: Sorry, da haben Sie aber ein sehr einseitiges Bild von Behinderten. Von einem Behinderten habe ich gerade gesprochen und in dem Buch geschrieben: Stephen Hawking. Ich lese gerade die Autobiografie von Ray Charles, dem „Hohepriester des Soul“, dessen Einfluss stilprägend für die Entwicklung von Rhythm and Blues, Blues, Country und Soul war. Das Magazin „Rolling Stone“ wählte ihn nach Aretha Franklin und vor Elvis Presley auf Platz 2 der 100 besten Sänger aller Zeiten. Ray Charles wurde mit sieben Jahren blind, dies hinderte ihn nicht, ein großartiges Leben zu führen: Er wurde berühmt, reich und hatte mehr Frauen als wohl 99% der Männer in ihrem Leben haben. Auf Postern wurde er als der blinde Sänger beworben, die Sonnebrille war sein Markenzeichen. Auch Beethoven war, wenn Sie so wollen, ein Behinderter. Schon mit 28 Jahren zeigten sich erste ernste Symptome der Hörbehinderung, später war er fast taub. Und wenn Sie von Rollstuhlfahrern reden, da fallen mir die großartige Unternehmerin Margarete Steif ein, die schon mit zwei Jahren an Kinderlähmung erkrankte oder aber Franklin D. Roosevelt, der ebenfalls an Kinderlähmung erkrankte und fortan von der Hüfte ab weitgehend gelähmt war, was ihn nicht hinderte 32. Präsident der USA zu werden. Mir fallen viele andere großartige Behinderte ein, zum Beispiel die Künstlerin Frida Kahlo oder Helen Keller. Keine dieser Personen musste sich vom World Trade Center in die Tiefe stürzen, um berühmt zu werden.

Groß: Sie sagen, Selbstvermarktung wird immer wichtiger. Ja, da mag etwas dran sein, aber macht das auch glücklicher, wenn man Glück als eine Parameter versteht, was dem Leben Sinn und Struktur gibt, wenn man in einer Zeit lebt, wo es nur um Überbietungsansprüche geht, die selbst die Selbstvermarkter immer wieder in die Depression, in Alkohol, Sex-Exzesse und den Drogenkonsum wirft. Die Vielzahl der Selbstvermarkter sind mit diesem individuellen Schicksal keineswegs glückliche Menschen geworden. Und das hat meiner Meinung den Grund, weil sie sich nicht auf sich selbst fokussieren, sondern immer äußeren Zwängen nachjagen, die letztendlich oft ihre eigene Persönlichkeitsstruktur ruinieren. Es gibt nämlich auch die Gegenthese zur Selbstvermarktung – und das ist der persönliche Ruin, der Absturz aus allen Gesellschaften Halteseilen, der im höchsten Grade unproduktiv und geradezu selbstzerstörerisch ist.

Zitelmann: Okay, Sie sprechen hier von Depressionen, Alkohol-, Sex- und Drogenexzessen. Wenn ich jetzt mal die zwölf Personen in meinem Buch durchgehe, da fällt mir außer Lady Diana niemand ein, die depressiv war. Mir fällt auch keiner ein, der Alkoholprobleme hatte (viele tranken gar keinen Alkohol). Und außer Oprah Winfrey und Steve Jobs würde mir auch niemand einfallen, der Drogen nahm, und auch bei diesen beiden war es nur eine Episode, die ihnen nicht geschadet hat. Lagerfeld und Trump leb(t) geradezu asketisch, tranken keinen bzw. fast keinen Alkohol, kein Nikotin, keine Drogen. Sex-Exzesse, okay, da würde mir vielleicht Andy Warhol einfallen, aber was ist gegen Sex-Exzesse einzuwenden? Ich vermute, sie haben ihm Spaß gemacht. Und wenn Sie sagen, dass solche Selbstvermarkter „ihre eigene Persönlichkeitsstruktur ruinieren“ dann entgegne ich: Das Gegenteil ist richtig. Leute wie Schwarzenegger, Muhammad Ali lebten ein sehr freies Leben. Sie waren sicher authentischer als die meisten Menschen es sein können – wie überhaupt Authentizität ein Schlüssel in der Selbstvermarktung ist. Sie behaupten, diese Menschen seien unglücklich. Aber woher wissen Sie das? Man kann nicht in Menschen hineinschauen. Aber ja, ich denke, Diana war überwiegend unglücklich. Aber Stephen Hawking, Albert Einstein, Arnold Schwarzenegger, Steve Jobs oder Madonna führ(t) ein sehr interessantes und wohl auch glückliches Leben.

Groß: Gegenbeispiele zur Selbstvermarktung scheint es mehr zu geben. Die Geschichte ist hier beispielgebend. Friedrich Nietzsche und Friedrich Schiller, Klopstock, Novalis etc. haben sich nicht selbst vermarktet – sind aber dennoch Paradebeispiele von grenzenloser Berühmtheit: Sicherlich könnten Sie mit Karl Marx, Arthur Schopenhauer Peter Sloterdijk oder Selbstinszenieren wie Richard David Precht und Adolf Hitler kontern. Was sagen Sie zu diesem Einwand?

Zitelmann: Ich weiß nicht, ob Precht viel außer Selbstvermarktung zu bieten hat, das kann ich nicht beurteilen. Ja, es gibt große Persönlichkeiten, die sich nicht selbst vermarktet haben. Viele von denen sind erst nach ihrem Tod berühmt geworden. Nehmen Sie Vincent van Gogh. Also, mir würde es nicht gefallen, wenn ich erst nach dem Tod Anerkennung für meine Arbeit bekomme. Das hoffe ich zwar auch, weil ich vermute bin, dass mindestens drei meiner wissenschaftlichen Bücher auch noch viele Jahrzehnte nach meinem Tod große Beachtung finden. Aber ich ziehe es – ebenso wie die in meinem Buch porträtierten Personen – vor, auch schon zu Lebzeiten Anerkennung zu finden und nicht erst, wenn ich in meinem Sarg schon verwest bin.

Groß: Ist Selbstvermarktung tatsächlich der Weisheit letzter Schluss und überdauert sie die Zeit der je aktuellen Inszenierung. Was wird in dreihundert Jahren von Karl Lagerfeld, Kim Kardashian Andy Warhol, Donald Trump oder Oprah Winfrey bleiben? Geschichte ist rasend schnell und vergisst nur allzu oft ihre Protagonisten – und vor allen solche, die an der Oberfläche der Selbstvermarktung spielten und ihre Einmaligkeit und Unvergesslichkeit nicht aus der Essenz ihres Lebens spiegelten?

Zitelmann: Das ist schwer zu prognostizieren. Wird man in 100 Jahren noch über Stephen Hawking, Andy Warhol oder Karl Lagerfeld sprechen? Vielleicht nicht. Ich glaube auch nicht, dass das deren Lebensziel war. Als Lagerfeld gefragt wurde, ob er daran denke, vielleicht eine Stiftung zu gründen, antwortete er, davon habe er ja nichts, denn: „Alles, was ich bin, beginnt und endet mit mir.“ Muhammad Ali, einer der in meinem Buch porträtierten, wird auch in 300 Jahren in der Sport- und Kulturgeschichte der USA erwähnt werden. Über Trump wird in 300 Jahren in Geschichtsbüchern geschrieben werden, weil er der 45. Präsident der USA war. Aber es kann gut sein, dass niemand mehr von Kim Kardashian sprechen wird. Ob sie das heute traurig macht? Oder ob sie den Ruhm und das Geld zu Lebzeiten dem Ruhm der Nachwelt vorzieht?

Groß: Ihr Buch ist gelungen, ich kann es nur empfehlen, weil es ein Stück weit den Zeitgeist spiegelt, aber wird dieser Zeitgeist nicht auch wieder in die Tiefen des Vergessens abtauchen und damit nur eine Momentaufnahme bleiben, die spätestens dann an Aktualität verliert, wenn eine neue Generation auf andere Werte setzt?

Zitelmann: Selbstvermarktung war schon immer wichtig, auch wenn ich die Beispiele nur aus den letzten 100 Jahren genommen habe. Ich sehe nicht, dass die Reizüberflutung und das mediale Angebot geringer werden, daher wird die Bedeutung der Selbstvermarktung zunehmen. In seiner Autobiografie erklärt Schwarzenegger: „Wenn ich einen Film abgedreht hatte, war für mich die Arbeit erst zur Hälfte erledigt… Man kann den besten Film der Welt machen, aber wenn er nicht den Weg in die Kinos findet und wenn die Leute nichts davon erfahren, dann nützt das alles nichts. Dasselbe gilt für Literatur, Malerei, oder auch Erfindungen.“ Sehen Sie, Herr Groß, Sie sind ein intelligenter Mensch, haben zudem zwei Doktortitel, können toll schreiben. Das haben wir beide gemeinsam. Und warum kennen mich trotzdem sehr viel mehr Menschen in Deutschland, der Schweiz, Großbritannien, Frankreich, Italien, China, Korea oder den USA als Sie? Ich glaube, das liegt vor allem daran, weil ich mich selbst besser selbst vermarkte. Überlegen Sie mal einen Moment, was Sie noch alles erreichen können, wenn Sie ein wenig von den in meinem Buch porträtierten Menschen lernen. Ich glaube, viele Intellektuelle haben negative Glaubenssätze zum Thema „Selbstvermarktung“ verinnerlicht, die ihnen in ihrem Leben schaden, ohne dass sie sich dessen bewusst sind.

Das Interview erschien zuerst im EUROPEAN

Über den Autor