Sahra Wagenknecht verdreht die Geschichte:
Geisterfahrerin auf der endlosen Straße des Sozialismus

Erschienen am 18. Februar 2018

Sahra Wagenknecht wird überall gerne eine Plattform als Kapitalismus-Kritikerin geboten. In einem ganzseitigen Interview in der WELT AM SONNTAG sieht man, wie sie die wirkliche Geschichte verdreht.

Die WAMS-Redakteure (Susanne Gaschke, Marcel Leubecher und Jacques Schuster) halten Wagenknecht im Interview die Erkenntnis der Totalitarismus-Theoretikerin Hannah Arendt entgegen, „dass alle ideologisch-politischen Bewegungen einen Gedanken gemeinsam haben: Dass Freiheit weder gut noch notwendig sei für den Menschen, und dass die Freiheit der historischen Entwicklung geopfert werden müsse. Trifft das auf Marx zu?“

„Marx kam aus dem Liberalismus“
Wagenknechts Antwort: „Nein, Marx kam aus dem Liberalismus. Sein Ansatz war, dass man den liberalen Gleichheitsanspruch ökonomisch untersetzen muss, weil er sonst nicht eingelöst wird.“ Sprachlich diffus ist die Formulierung, „Marx kam aus dem Liberalismus“: Marx selbst war niemals in seinem Leben ein Liberaler und seine Theorie steht auch nicht in der Denktradition des Liberalismus. Marx entwickelte seine ökonomische Lehre gerade in Abgrenzung zu liberalen Theoretikern wie Adam Smith. Wagenknecht will offenbar sagen, dass Marx die Forderung der Liberalen nach Gleichheit aller Menschen vor dem Gesetz vollenden und fortführen wollte, indem durch Abschaffung des Privateigentums an Produktionsmitteln die Grundlagen für ökonomische Chancengleichheit und damit auch für die wahre politische Freiheit geschaffen werden sollten.

Marx hat den Liberalismus als politische „Überbau“-Ideologie des Kapitalismus geschmäht, sein Ziel war die Diktatur des Proletariats als Übergangsform zur klassenlosen Gesellschaft. Der Weg zum Reich der Freiheit sollte durch die Diktatur führen. Mit Liberalismus bzw. mit einer konsequenten Fortentwicklung liberaler Prinzipien, hat dies nicht das Geringste zu tun. Und es ist eben auch kein Zufall, dass in keinem einzigen der unzähligen Versuche in der Geschichte, die Marx’schen Ideen in die Wirklichkeit umzusetzen, mehr Freiheit erreicht wurde, sondern dass überall – ohne Ausnahme – die politische Freiheit abgeschafft wurde. Wagenknecht, die Marx in dem Interview als „großartig tiefgründigen Wissenschaftler“ preist, glaubt, dass alle Marxisten an der Regierung bislang Marx missverstanden hätten, und nur sie ihn richtig verstehe. Vielleicht ist sie aber nur die Geisterfahrerin auf der endlosen Straße des Sozialismus, die denkt, dass alle anderen falsch fahren.

Der Kapitalismus schafft Wohlstand, nicht der Sozialstaat
Der Kapitalismus hat in den letzten 200 Jahren zu einer enormen Zurückdrängung von Armut geführt und so viel Wohlstand geschaffen, wie kein anderes System in der Weltgeschichte. Wagenknecht leugnet das: „Dass der Wohlstand der großen Mehrheit der Bevölkerung in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts kontinuierlich wuchs, war kein Ergebnis des Kapitalismus, sondern starker Sozialstaaten und guter Regeln am Arbeitsmarkt.“ Genau das ist nachweislich falsch.

Dort, wo der Sozialstaat am stärksten ausgebaut war, führte er in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts zu ökonomischer Ineffizienz, worunter gerade auch die Arbeiterschaft litt. Es gab in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts zwei große Experimente mit dem „demokratischen Sozialismus“ – in Großbritannien (50er-Jahre bis zum Regierungsantritt von Thatcher 1979) und in Schweden (70er- und 80er-Jahre). Nirgendwo war der Sozialstaat zu dieser Zeit so stark ausgebaut wie in diesen beiden Ländern. Nirgendwo war der Arbeitsmarkt so stark reguliert. Nirgendwo waren die Reichensteuern so hoch. Ein Paradies, ganz nach dem Geschmack von Sahra Wagenknecht. All das, was ihre Partei DIE LINKE fordert, war im „demokratischen Sozialismus“ in Großbritannien und Schweden idealtypisch umgesetzt. Doch beide Versuche scheiterten grandios. Durch kapitalistische Reformen, Privatisierungen, Steuersenkungen und Deregulierungen, also all das, was aus Sicht von Wagenknecht Teufelszeug ist, wurden diese Länder in den 80er- bzw. den 90-er Jahren wieder wirtschaftlich stärker. Belege finden Sie sehr ausführlich in meinem neuen Buch „Kapitalismus ist nicht das Problem, sondern die Lösung“.

Wagenknecht und China
Mehr Wohlstand wurde – entgegen der These von Wagenknecht – hingegen in jenen Ländern geschaffen, in denen der Einfluss des Staates zurückgedrängt und mehr Kapitalismus zugelassen wurde. Das beste Beispiel ist die Entwicklung in China in den letzten 30 Jahren, wo das Privateigentum wieder eingeführt und Stück für Stück mehr Kapitalismus implementiert wurde. In der Folge der Abkehr vom Sozialismus und der Zuwendung zu mehr Kapitalismus stiegen Hunderte Millionen Chinesen aus der Armut in die Mittelschicht auf. Wagenknecht distanziert sich von China und betont: „Die Entwicklung in China hat mit Marx nichts zu tun. Das Regime nennt sich kommunistisch, aber das System ist ein staatlich gesteuerter Kapitalismus.“

Genau, (fast) richtig: Das chinesische System ist ein (staatlich zunehmend weniger gesteuerter) Kapitalismus, das umso erfolgreicher war, je mehr die Macht der Staatsbetriebe und der staatlichen Planung zurückgedrängt wurde und je mehr Raum dem Markt gelassen wurde. Der chinesische Ökonom Zhang Weiying hat diesen faszinierenden Prozess in seinem grandiosen Buch „The Logic of the Market“ beschrieben: „China’s reform startet wird an all-powerful government under the planned economy. The reason China could have sustained economic growth during the process of reform was because the government managed less and the proportion of state-owned enterprises decreased, not the other way around. It was precisely the relaxation of government control that brought about market prices, sole proprietorships, town and village enterprises, private enterprises, foreign enterprises, and other non-state-owned entities.“

Mit Marx hat dieses System in der Tat nichts mehr zu tun. Wagenknecht kritisiert in dem Interview den „Manchesterkapitalismus“ in China. Aber selbst der linke Ökonom Joseph Stiglitz muss zugeben: „In der gesamten bisherigen Geschichte ist noch kein Land so schnell gewachsen – und hat so viele Menschen aus der Armut befreit – wie China in den letzten dreißig Jahren.“ Während noch Ende der 50er-Jahre 45 Millionen Menschen in China als Folge einer durch sozialistische Experimente ausgelösten Hungersnot starben, hungert heute niemand mehr in China.

Wagenknechts ökonomische Kompetenz
Wagenknecht wird in den Medien als kompetente Ökonomin dargestellt. Aber daran sind erhebliche Zweifel erlaubt. Wagenknecht pries noch vor fünf Jahren in höchsten Tönen Venezuelas Hugo Chavéz, der den „Sozialismus im 21. Jahrhundert“ verwirklichen wollte, als „großen Präsidenten“, der mit seinem ganzen Leben für den „Kampf um Gerechtigkeit und Würde“ gestanden habe. Chávez habe bewiesen, dass „ein anderes Wirtschaftsmodell möglich sei“, so Wagenknecht. Dieses „andere Wirtschaftsmodell“ von Chávez war der (vorerst) letzte in einer endlosen Reihe von Versuchen in den letzten 100 Jahren, eine Alternative zum Kapitalismus zu verwirklichen. Die Ergebnisse können wir heute bestaunen: Im erdölreichsten Land der Welt hungern die Menschen, Millionen sind schon ausgewandert und die Inflation ist so hoch wie nirgendwo sonst auf der Welt. Und mit der politischen Freiheit ist es auch nicht mehr weit her – das Parlament wurde entmachtet, über 120 Demonstranten wurden im vergangenen Jahr erschossen. Das war das Ergebnis des von Wagenknecht gepriesenen „anderen Wirtschaftsmodells“.

Was Wagenknecht, der es um eine solche Alternative zum Kapitalismus geht, nicht verstehen will: ALLE diese Versuche sind gescheitert – ob nun der Hardcore-Sozialismus wie in der Sowjetunion, der DDR, China oder Nordkorea oder der „demokratische Sozialismus“ wie in Schweden, Großbritannien und Chile. „Nichts zeugt mehr von Dummheit, als immer wieder die gleichen Dinge zu machen und andere Ergebnisse zu erwarten“, hat Albert Einstein einmal gesagt. Da Wagenknecht zweifelsohne eine kluge Frau ist, habe ich die Hoffnung, dass auch sie irgendwann erkennt, dass der Sozialismus eben nicht eine gute Idee war, die in den letzten 100 Jahren zufälligerweise immer schlecht umgesetzt wurde, sondern dass die Idee selbst verkehrt ist. Und dass somit der Kapitalismus nicht das Problem ist, sondern die Lösung.

Mehr zur Kapitalismus-Kritik lesen Sie in Rainer Zitelmanns Buch, das nächsten Montag erscheint: Kapitalismus ist nicht das Problem, sondern die Lösung.

Über den Autor

Rainer Zitelmann ist einer der führenden Immobilienexperten und -netzwerker in Deutschland.