So sieht das marxistische Traumland aus:
Was Gregor Gysi verschweigt

Erschienen am 4. Mai 2018

Endlich verrät uns ein Marxist, wie der wahre Marxismus in der Praxis ausgesehen hat. Gregor Gysi hat das Geheimnis gelüftet.

Angesichts von 100 Millionen Toten durch den Kommunismus sind die Marxisten in Erklärungszwang. Damit sie den 200. Geburtstag ihres Helden dennoch feiern können, behaupten sie, alle Systeme, die sich auf Marx beriefen, hätten ihn missbraucht, missverstanden usw. Das wirkt nun freilich ziemlich lächerlich, denn wenn jemand sagt, die „richtige“ Idee sei in 170 Jahren niemals umgesetzt worden, dann muss man sich ja fragen, ob das nicht doch an der Idee selbst liegt.

Gregor Gysi hat dieses Dilemma erkannt und hat jetzt ganz willkürlich wenigstens drei sozialistische Versuche herausgekramt, die den „wahren Marx“ richtig verstanden hätten. Und diese drei seien alle nur deshalb gescheitert, weil man sie militärisch kaputt gemacht habe. Gysi im DEUTSCHLANDFUNK: „Die Linke ist natürlich geschwächt, weil der Staatssozialismus gescheitert ist, und so, wie er war, ist er ja auch zurecht gescheitert. Aber es gab ja nur drei Versuche eines demokratischen Sozialismus, wie es sich vielleicht auch Karl Marx vorgestellt hat. Das eine war die Pariser Kommune, die ist militärisch zerschlagen worden. Das zweite war der Prager Frühling, 1968 unter Dubcek in der CSR, auch militärisch kaputt gemacht worden. Und der dritte Versuch war von Allende in Chile, auch militärisch kaputt gemacht worden. Das ist interessant. Der demokratische Sozialismus hatte noch nie eine Chance.“

Nun, der „demokratische Sozialismus“ in der CSR war vor allem eine Revolte gegen den sowjetischen Kommunismus. Er fing so an, wie alle Revolten dieser Art, nämlich als Versuch, einen „besseren Sozialismus“ umzusetzen. So begannen bekanntlich auch die Demonstrationen gegen das DDR-Regime. Die Sowjets fürchteten damals der „Prager Frühling“ werde eine Eigendynamik entwickeln und im Kapitalismus enden. Und hätten sie ihn nicht mit Panzern niedergeschlagen, dann spricht viel dafür, dass es genau so gekommen wäre – wie bei allen antikommunistischen Aufstanden später (Polen, DDR usw.), die logischerweise „systemimmanent“ begannen und schließlich das sozialistische System komplett beseitigten. Den „Prager Frühling“ als eigenständiges, funktionierendes Musterbeispiel für den wahren „demokratischen Sozialismus“ anzuführen, ist jedenfalls sehr abenteuerlich.

Und Chile, das andere Beispiel von Gysi? In der Tat ist in Chile Allendes Sozialismus durch einen Militärputsch beendet worden, dem eine Diktatur folgte. Was Gysi verschweigt: Gescheitert war der Sozialismus in Chile schon davor.

So sieht Gysis Traumland aus
Im September 1970 wurde in Chile der Kandidat der Unidad Popular, Salvador Allende, mit knappen 36,5 Prozent der Stimmen zum Präsidenten gewählt. Faszinierend war dies für viele Linke deshalb, weil erstmals ein strammer Marxist durch demokratische Wahlen an die Macht gekommen war. Marxisten kamen bis dahin üblicherweise durch gewaltsame Revolutionen an die Macht oder wurden von der Sowjetunion nach dem Zweiten Weltkrieg eingesetzt – so wie in der DDR oder Nordkorea.

Die erste Maßnahme des neuen Präsidenten war die Verstaatlichung der Kupferminen, der wichtigsten Einnahmequelle Chiles. Da die Sozialisten der Meinung waren, die von amerikanischen Firmen betriebenen Kupferunternehmen in Chile hätten in der Vergangenheit zu hohe Profite erzielt, bekamen diese nicht nur keine Entschädigung, sondern stattdessen noch nach ihrer Enteignung eine Rechnung präsentiert. Zügig wurden Banken und weitere Unternehmen verstaatlicht. Als Allende 1973 gestürzt wurde, lag der staatliche Anteil an der Industrieproduktion bei 80 Prozent. Die Mieten und die Preise für Grundnahrungsmittel wurden durch den Staat festgesetzt, die Gesundheitsversorgung kostenfrei angeboten.

Die sozialistische Regierung setzte vor allem auf den staatlichen Sektor. Die Beschäftigung beim Staat und in staatlichen Firmen weitete sich zwischen 1970 und 1973 um 50 bzw. 35 Prozent aus. Die Sozialausgaben stiegen in nur zwei Jahren real um fast 60 Prozent, was zur großen Popularität der Regierung beitrug. Finanziert wurde das alles durch Staatsschulden und eine Ausweitung der Geldmenge, nicht durch gestiegene Steuereinnahmen. Das Haushaltsdefizit wuchs allein 1971 im Vergleich zum Vorjahr von 3,5 Prozent des Bruttoinlandsproduktes auf 9,8 Prozent. Während die öffentlichen Investitionen um über zehn Prozent stiegen, fielen die Investitionen in der Privatwirtschaft 1971 um fast 17 Prozent. Das ist kein Wunder. Private Unternehmer, die befürchten müssen, dass ihr Unternehmen enteignet wird, investieren natürlich nicht mehr. In den Jahren 1970 bis 1973 wurden insgesamt 377 Unternehmen in Chile verstaatlicht.

Die Verstaatlichungen waren wirtschaftlich ein Misserfolg. Fachkräfte und Manager wanderten ab, stattdessen wurden zahlreiche Politaktivisten eingestellt. In Unternehmen, die noch nicht sozialisiert wurden, ergriffen Arbeiter selbst die Initiative und besetzten die Produktionsanlagen.

Zudem wurden 6,4 Millionen Hektar Land enteignet. Teilweise wurden Kollektive gebildet, wie man sie aus anderen sozialistischen Ländern kennt. Bauern, die in den 60er-Jahren von der Agrarreform profitiert hatten und Eigentümer geworden waren, mussten jetzt als Angestellte des Staates in landwirtschaftlichen Kollektiven arbeiten. In der Zeit von Allendes Herrschaft wurden täglich 5,5 Grundstücke enteignet oder besetzt und jeden zweiten Tag wurde ein Betrieb verstaatlicht oder besetzt. Die Produktionsleistung ging drastisch zurück, bereits 1972 musste Chile den Großteil seiner Exporterlöse für den Import von Lebensmitteln aufwenden.

Insgesamt war die Wirtschaftspolitik der Unidad Popular ein Misserfolg. Das galt nicht nur für den Agrar- und Industriesektor, sondern insbesondere auch für die Finanzpolitik. Wie ihre Vorgänger wurde die Regierung der Inflation niemals Herr, ja verschärfte sie durch die großzügigen Staatsausgaben zunehmend. Es kam zu einer ähnlichen Entwicklung, wie drei Jahrzehnte später in Venezuela (das Gysi und Wagenknecht noch vor wenigen Jahren als sozialistisches Wunderland lobten, doch angesichts der weltweiten höchsten Inflation von über 2000 Prozent hat Gysi dieses Beispiel nicht mehr erwähnt). Schon beim Amtsantritt von Allende hatte die Inflation 36 Prozent betragen, und sie stieg bis 1972 auf 605 Prozent.

Wie später im sozialistischen Venezuela kam es in Chile zu zahlreichen Protestaktionen. Während des fast einmonatigen Besuches des kubanischen Revolutionsidols und Staatsführers Fidel Castro in Chile organisierten Chileninnen einen „Marsch der Kochtöpfe“, um gegen die schlechte Versorgungslage zu protestieren. Linke Aktivisten griffen die Demonstranten an. Im Oktober 1972 beteiligte sich eine halbe Million Kleinunternehmer, Bauern und Freiberufler an Protestaktionen gegen die Regierung.

Im September 1973 putschte das Militär gegen die sozialistische Regierung. Kurz bevor die Putschisten den Präsidentenpalast stürmten, beging Salvador Allende Selbstmord. General Augusto Pinochet errichtete eine schlimme Militärdiktatur. Die Pressefreiheit und andere demokratische Rechte wurden beseitigt, Oppositionelle verhaftet und gefoltert.

Wenn Gysi 170 Jahre nach Veröffentlichung des kommunistischen Manifests von Karl Marx keine besseren Beispiele für sein marxistisches Wunderland einfallen, dann sagt das viel.

Leseproben sowie 20 Besprechungen und Interviews zum neuen Buch von Dr. Dr. Zitelmann "Kapitalismus ist nicht das Problem, sondern die Lösung" finden Sie hier: http://kapitalismus-ist-nicht-das-problem.de/presse/

Über den Autor

Rainer Zitelmann ist einer der führenden Immobilienexperten und -netzwerker in Deutschland.