Beim diesjährigen Filmfestival in Cannes bekam der Südkoreaner Bong Joon-ho die begehrte „Goldene Palme“ für seine Satire „Parasite“. Der Film ist eine Anklage gegen den Kapitalismus: Eine Familie aus prekären Verhältnissen nistet sich im Anwesen einer reichen Familie ein. Doch haftet den Eindringlingen unverkennbar der Geruch von Leuten aus den unteren sozialen Schichten an. Eine Botschaft des Filmes: Die Schere zwischen Reich und Arm ist kaum zu überbrücken.
Ich habe den Film noch nicht gesehen, aber wurde gleich als erstes in einem Interview mit dem Kulturredakteur einer angesehenen koreanischen Tageszeitung darauf angesprochen. Der Film, so meinte er, zeige, dass Arme wie Reiche durch den Kapitalismus psychisch deformiert würden. In dem Interview konfrontierte er mich mit all jenen antikapitalistischen Stereotypen, die auch in westlichen Ländern populär sind. Eines ist klar: Auch im kapitalistischen Südkorea ist die Antikapitalismus-Kritik angekommen. Namen wie den des französischen Kapitalismus-Kritikers Thomas Piketty, kennt man auch hier.
Im Unterschied zu Europa gibt es jedoch eine starke prokapitalistische Gegenbewegung. Daher ist das Interesse an der soeben erschienenen koreanischen Ausgabe meines Buches „Kapitalismus ist nicht das Problem, sondern die Lösung“, groß. Vor allem in den sozialen Medien – und hier vor allem auf Youtube – sind die südkoreanischen Prokapitalisten aktiv. Kanäle wie „Pen & Mike“ (462.000 Abonnenten), Go-Sung-Gook TV (350.000 Abonnenten) und Sihn Ui Han Soo (733.000 Abonnenten) sind sehr populär. Manche dieser Youtube-Sendungen sind fast wie professionelle Fernsehkanäle aufgebaut.
Dem seit Mai 2017 regierenden Präsidenten Moon Jae-in von der Demokratischen Partei werfen die Kritiker einen antiamerikanischen Kurs vor und ein Schweigen zu den Menschenrechtsverletzungen in Nordkorea. Aus Sicht von Sung-No Choi, Präsident des marktwirtschaftlichen Center for Free Enterprise, ist die regierende Demokratische Partei weit linker als die deutschen Sozialdemokraten und die britische Labour Party. Sie verfolge eindeutig eine sozialistische Politik. Allein seit 2017 seien die Sozialausgaben um 30 Prozent gestiegen.
Kritiker wie Choi fürchten, die Südkoreaner könnten vergessen, was die Ursache für den erstaunlichen Erfolg ihres Landes war. Südkorea war noch Anfang der 60er Jahre eines der ärmsten Länder der Welt, so wie heute die ärmsten afrikanischen Länder. Nach Chois Überzeugung ist der Erfolg Südkoreas – heute die sechsstärkste Exportnation der Welt – vor allem ein Erfolg des Kapitalismus. Choi ist zugleich Präsident der Hayek-Gesellschaft in Südkorea, die mit Publikationen, Veranstaltungen und Youtube-Videos für die freie Marktwirtschaft wirbt.
Die Kritik der südkoreanischen Prokapitalisten richtet sich vor allem gegen das, was aus ihrer Sicht eine Abkehr von kapitalistischen Prinzipien ist. Stark diskutiert wird der Mindestlohn. Bereits 1988 wurde in Korea ein Mindestlohn eingeführt, der jedoch sehr niedrig war. In den vergangenen Jahren ist er drastisch gestiegen. Die Befürchtung der Kritiker: Vor allem kleinere Unternehmen könnten den Mindestlohn nicht mehr zahlen. Nach Berechnungen des Center for Free Enterprise bedeute eine Erhöhung des Mindestlohnes um zehn Prozent einen Anstieg der Arbeitslosigkeit um 0,7 bis 0,8 Prozent.
Manche Kritik mutet freilich aus westeuropäischer Sicht eigenartig an: Das Center for Free Enterprise weist darauf hin, dass die Regierung die Höchstwochenarbeitszeit von 68 Stunden (plus 12 erlaubte Überstunden) auf 52 Wochenstunden reduziert habe. Auf meinen Hinweis, dass die Franzosen nur 35 Stunden die Woche arbeiteten, entgegnen Kritiker dieser Maßnahme, Unternehmern in Korea würden bis zu zwei Jahren Gefängnisstrafe drohen, wenn ihre Mitarbeiter länger arbeiteten, was insbesondere in kleineren Betrieben oft unumgänglich sei.
Auch über die Kernenergie wird kontrovers diskutiert. Deren Anteil lag 1990 noch bei 45 Prozent, heute liegt er bei 23 Prozent. Aber der Präsident Moon dachte auch schon laut über einen Ausstieg nach, was wiederum von seinen Kritikern abgelehnt wird. Viele Kritiker der derzeitigen Regierung sind Anhänger von Park Geun-hye, der Tochter von Park Chung-hee, dem Vater des koreanischen Wirtschaftswunders. Seine Tochter war von 2013 bis 2017 Präsidentin in Südkorea. Sie sitzt heute im Gefängnis, weil sie wegen Korruption verurteilt wurde. Die oppositionellen Kräfte glauben jedoch, dass sie zu Unrecht verurteilt worden sei.
Die Medien, so klagten meine libertären Gesprächspartner, seien fest in der Hand von linken Ideologen. Wenn in Deutschland das Feindbild für Rechte die „68er“ sind, dann klagen Südkoreaner mit ähnlichem Tenor über die Macht der „80er“. Immer wieder wurde ich darauf hingewiesen, die Personen, die heute in der Politik und den Medien das Sagen hätten, seien in der Studentenbewegung der 80er-Jahre sozialisiert worden. Meinem Einwand, dies sei auch eine legitime Protestbewegung gegen ein autokratisches, undemokratisches System gewesen, wurde entgegengehalten, dass führende Protagonisten dieser Bewegung starke Sympathien für Nordkorea gehabt hätten und antiamerikanisch gewesen seien.
Auch wenn Südkorea eine ganz andere Geschichte und Kultur an, so muten viele aktuelle Diskussionen sehr „westlich“ an: Ob sich die Gesellschaft, wie libertäre Kritiker meinen, zu sehr in Richtung eines europäischen Wohlfahrtsstaates entwickle und die kapitalistischen Prinzipien verrate, oder ob – wie die andere Seite meint – sozialstaatliche Reformen dringend erforderlich seien, weil die Schere zwischen Arm und Reich immer stärker auseinandergehe.
PS: Hier ein Youtube-Interview mit Dr. Dr. Zitelmann in Korea – nur die Begrüßung ist auf Koreanisch, der Rest in Englisch: Zum Video
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