Die wirtschaftliche Stärke des modernen China ist nicht das Ergebnis eines besonderen Systems, in dem der Staat in der Wirtschaft viel zu sagen hat. Im Gegenteil: Sie ist ein Ergebnis marktwirtschaftlicher Reformen, in deren Verlauf der Staatseinfluss zunehmend zurückgedrängt und den Marktkräften mehr Raum gegeben wurde.*
Die ökonomische Bilanz der Mao-Zeit war verheerend: Zwei Drittel der Bauern hatten 1978 ein niedrigeres Einkommen als in den 50er-Jahren, bei einem Drittel war es sogar niedriger als 1935, vor der japanischen Invasion. Nachdem Mao im Jahr 1976 gestorben war, kamen in China glücklicherweise pragmatischer denkende Politiker an die Macht, die spürten, dass die Menschen genug von radikalen sozialistischen Experimenten hatten. Maos Nachfolger wurde Hua Guofeng, und dieser bereitete einem Mann den Weg, ohne den das heutige moderne China schwer denkbar wäre, Deng Xiaoping.
Lernen vom Ausland
1978 begann eine rege Reisetätigkeit führender chinesischer Politiker und Wirtschaftler. Sie unternahmen 20 Reisen in mehr als 50 Länder, um herauszufinden, was sie wirtschaftlich von ihnen lernen könnten. Unter anderem besuchten sie Japan, Thailand, Malaysia, Singapur, die USA, Kanada, Frankreich, Deutschland und die Schweiz. Die Mitglieder der Reisedelegation waren ungeheuer beeindruckt von dem, was sie in Westeuropa sahen: Moderne Flughäfen wie Charles de Gaulle in Paris, Autofabriken in Deutschland und Häfen, in denen Schiffe automatisiert mit Containern beladen werden. Überrascht waren sie, wie hoch der Lebensstandard selbst eines normalen Arbeiters in den kapitalistischen Ländern war.
Deng selbst besuchte Länder wie die USA und Japan. Fasziniert war er von den Nissan-Werken in Japan und nach der Besichtigung erklärte er: „Jetzt verstehe ich, was Modernisierung bedeutet.“ Vor allem imponierten den Chinesen die wirtschaftlichen Erfolge in ihrer unmittelbaren Umgebung. „Insbesondere die ökonomische Dynamik der Nachbarländer galt, wenngleich kaum eingestanden, als Vorbild. Die Nähe der um 1945 noch durch den Krieg zerstörten japanischen Wirtschaft, die ab den 1950ern sämtliche Wachstumsrekorde brach und neben wettbewerbsfähigen Exportindustrien eine moderne Konsumgesellschaft hervorbrachte, ließ die Errungenschaften unter Mao als begrenzt erscheinen.“
Beeindruckt war Deng von seiner Reise nach Singapur, dessen Wirtschaft sich so positiv von Chinas Wirtschaft unterschied. Lee Kuan Yew, Gründungsvater von Singapur und drei Jahrzehnte Premierminister, erinnert sich an ein Abendessen: „Ich hatte Deng 1978 während eines Abendessens in Singapur erzählt, dass wir, die Singapur-Chinesen, die Nachfahren von landlosen Bauern aus Guandong und Fujian in Südchina waren, die nicht lesen und nicht schreiben konnten. Nichts von dem, was Singapur getan hatte, könnte China nicht tun – und sogar besser tun. Er schwieg seinerzeit. Als ich las, dass er dem chinesischen Volk sagte, sie sollten es besser machen als Singapur, wusste ich, dass er die Herausforderung angenommen hatte, die ich ihm in dieser Nacht vor 14 Jahren dezent übermittelt hatte.“
Die Berichte von den Reisen wurden in China weit verbreitet – in der Partei und in der Öffentlichkeit. Den Politikern und Wirtschaftsleuten, die gesehen hatten, wie es beispielsweise den Arbeitern in Japan ging, fiel es wie Schuppen von den Augen und sie merkten, dass sie jahrelang von der kommunistischen Propaganda belogen worden waren, als diese die Errungenschaften des Sozialismus in China mit dem Elend in den kapitalistischen Ländern verglich. In Wahrheit verhielt es sich genau umgekehrt, wie jeder sehen konnte, der diese Länder bereiste. „Je mehr wir von der Außenwelt sehen, desto klarer wird uns, wie rückständig wir sind“, wiederholte Deng immer wieder.
Ent-Kollektivierung der Landwirtschaft
Doch es wäre falsch zu glauben, man sei nun über Nacht zum Kapitalismus „bekehrt“ gewesen und habe sofort begonnen, in China die Planwirtschaft abzuschaffen und die Marktwirtschaft einzuführen. Man begann langsam, tastend, gab den Staatsbetrieben mehr Eigenständigkeit. Der Übergang von der sozialistischen Staatswirtschaft zur Marktwirtschaft vollzog sich nicht schlagartig, sondern in einem über Jahre und Jahrzehnte andauernden Prozess. Und mindestens ebenso wichtig wie die Initiativen von oben, also von der Partei, waren Bewegungen von unten, so etwa von den Bauern.
Nach den Erfahrungen mit dem „Großen Sprung nach vorn“ gingen die Bauern in immer mehr Dörfern selbst dazu über, wieder den Privatbesitz an Ackerland einzuführen, was offiziell verboten war. Aber es zeigte sich rasch, dass die Erträge der privaten Landwirtschaft sehr viel höher waren, und die Parteifunktionäre ließen die Menschen gewähren.
Schon lange bevor das offizielle Verbot von privater Landwirtschaft 1982 aufgehoben wurde, gab es überall in China spontane Initiativen von Bauern, die das private Eigentum entgegen dem sozialistischen Glaubensbekenntnis wieder einführten. Das Ergebnis war sehr positiv: Die Menschen mussten nicht mehr hungern, die landwirtschaftliche Produktion stieg rapide an. Und 1983 war fast die gesamte Landwirtschaft in China ent-kollektiviert. Das große sozialistische Experiment Maos, dem so viele Millionen Menschen zum Opfer fielen, war beendet.
Staatsbetriebe werden zurückgedrängt
Aber nicht nur auf dem Land kam es zu Veränderungen. Jenseits der großen staatlichen Unternehmen gab es zahlreiche kommunale Unternehmen, die zwar formal den Städten und Gemeinden gehörten, aber zunehmend wie private Unternehmen gemanagt wurden. Diese Unternehmen erwiesen sich oft den schwerfälligen Staatsunternehmen als überlegen, weil sie nicht den engen Vorgaben einer Planwirtschaft unterlagen. Die Zahl der Arbeitnehmer in diesen Firmen stieg von 28 Millionen im Jahr 1978 auf 135 Millionen im Jahr 1996, ihr Anteil an der Wirtschaftsleistung Chinas von sechs auf 26 Prozent.
In den 80er-Jahren etablierten sich zunehmend de facto privatwirtschaftlich geführte Unternehmen im Gewand von Kollektivunternehmen, sogenannten COEs (Collective Owned Enterprises) oder TVEs (Township and Village Enterprises). Es ist zu kurz gegriffen, in einem Schwarz-Weiß-Schema zwischen Staats- und Privateigentum zu unterscheiden, denn auch wenn es sich rechtlich um Eigentum einer Stadt oder Gemeinde handelte, wurden diese Betriebe in Wahrheit wie Privatunternehmen geführt.
Das sozialistische System, wonach es ausschließlich Staatseigentum geben dürfe, von einer staatlichen Planbehörde geleitet, wurde von unten mehr und mehr ausgehöhlt. Von großer Bedeutung war die Schaffung sogenannter Sonderwirtschaftszonen. Das waren Gebiete, in denen das sozialistische Wirtschaftssystem außer Kraft gesetzt war und in denen mit kapitalistischen Wirtschaftsformen experimentiert werden durfte. Die erste Sonderwirtschaftszone war Shenzen, die nahe dem damals politisch und wirtschaftlich eigenständigen, kapitalistischen Hongkong lag. Shenzen war das Gebiet, von dem Chinesen illegal in die britische Kronkolonie emigrierten. So wie vor dem Mauerbau immer mehr Menschen aus Ost- nach Westdeutschland flohen, so versuchten auch immer mehr Menschen aus dem sozialistischen China in das kapitalistische Hongkong zu fliehen.
Jedes Jahr riskierten Tausende Menschen ihr Leben, um die scharf bewachte Grenze zwischen dem sozialistischen China und dem kapitalistischen Hongkong zu überqueren. Die meisten wurden von den Grenztruppen aufgegriffen, viele ertranken bei dem Versuch, auf die Hongkonger Seite hinüberzuschwimmen. Das Internierungslager nahe der Grenze, in das die Kommunisten die bei Fluchtversuchen Aufgegriffenen einsperrten, war völlig überfüllt.
Menschen, die fliehen wollten, wurden als Staatsfeinde und Verräter am Sozialismus angefeindet, so wie damals in der DDR. Doch Deng war so klug zu erkennen, dass sich das Problem nicht allein mit der Armee und schärferen Grenzkontrollen lösen ließ. Die Parteiführung der Provinz Guangdong, zu der Shenzhen gehörte, stellte eine Untersuchung über die illegale Emigration an. Sie musste lernen, dass sich die Geflohenen auf der anderen Seite des Shenzhen-Flusses auf dem Territorium von Hongkong ansiedelten, ein eigenes Dorf gründeten und dort 100 Mal mehr verdienten als die Menschen auf der sozialistischen Seite des Flusses.
Deng argumentierte, China müsse dafür sorgen, dass der Lebensstandard auf der chinesischen Seite steige, dann hätten die Menschen keinen Grund mehr, zu fliehen. Shenzhen, das damals weniger als 30.000 Einwohner zählte, wurde zum ersten kapitalistischen Experimentierfeld in China. Die Parteifunktionäre, die in Hongkong und Singapur gesehen hatten, dass der Kapitalismus sehr viel besser funktioniert als der Sozialismus, gestatteten ein marktwirtschaftliches Experiment in dieser Sonderwirtschaftszone.
Das ehemalige Fischerstädtchen, aus dem die Menschen einst unter Lebensgefahr flohen, ist heute neben Hongkong und Macau die Stadt mit dem höchsten Pro-Kopf-Einkommen in China. Fast zwölf Millionen Menschen leben dort, tragende Säulen der lokalen Wirtschaft sind die Elektronik- und die Telekommunikationsindustrie. Einige Jahre, nachdem die Sonderwirtschaftszone etabliert worden war, mussten die Stadtherren von Shenzhen schon einen Zaun aus Stacheldraht um die Zone ziehen, weil der Ansturm der Chinesen aus dem Inland so groß war.
Das Modell der Sonderwirtschaftszonen wurde rasch auf andere Regionen übertragen. Für ausländische Investoren waren diese Sonderwirtschaftszonen sehr attraktiv. Sie profitierten von niedrigen Steuersätzen, einer geringen Bodenpacht und geringen bürokratischen Verwaltungsauflagen. Hier herrschte eine freiere Marktwirtschaft als wir sie heute in vielen europäischen Ländern kennen. Nach einer Reform im Jahr 2003 kontrollierte die chinesische Regierung ungefähr 200 „Entwicklungszonen“, die sich bis weit ins Landesinnere erstreckten. Hinzu kamen noch einmal bis zu 2.000 regional oder lokal beaufsichtigte Entwicklungszonen, die nicht einer unmittelbaren zentralstaatlichen Kontrolle unterlagen.
Preisreform
Die Reform der chinesischen Wirtschaft war jedoch halbherzig: Nebeneinander existierten die sozialistische Planwirtschaft mit Staatsbetrieben und die verschiedenen Privatunternehmen und Sonderwirtschaftszonen. Im Kapitalismus zeigt das Auf und Ab der Preise, wo es sich für einen Unternehmer lohnt, zu investieren, aber in einer Planwirtschaft werden die Preise durch Beamte in Planungsbehörden festgelegt. In China herrschte zunehmend ein Preischaos, da es einerseits Marktpreise gab und andererseits die staatlich festgelegten Preise. Ende der 80er-Jahre kam es zu einer Inflation mit monatlichen Preissteigerungen von bis zu 40 Prozent.
Die Befürworter der Reformen sahen dies als Beleg dafür, dass die Reformschritte zu halbherzig waren und man konsequenter auf den Markt setzen sollte, während die Befürworter der Planwirtschaft sich in ihrer Skepsis bestätigt sahen und die wirtschaftlichen Probleme als Folge einer Abkehr von den Prinzipien des Sozialismus deuteten. Zudem kam es zu politischen Unruhen, die im Juni 1989 einen Höhepunkt fanden, als eine Demonstration von Studenten in Peking gewaltsam mit Panzern niedergeschlagen wurde. Nach Angaben von Amnesty International starben in diesen Tagen zwischen mehreren Hundert und mehreren Tausend Menschen. Die Kommunistische Partei sah ihre Führung gefährdet, zumal unter dem Eindruck, dass Ende der 80er-Jahre in der Sowjetunion und dem gesamten sozialistischen Ostblock der Kommunismus zusammenbrach und die dortigen kommunistischen Parteien ihre Macht verloren.
Deng und die anderen Anhänger der marktwirtschaftlichen Reformen huldigten in Lippenbekenntnissen nach wie vor dem Sozialismus, aber sie definierten diesen Begriff um. Sozialismus meinte nun nicht mehr Staats- und Planwirtschaft, sondern Deng definierte den Begriff als offenes System, das sich durch die Bereitschaft auszeichnete, von allen anderen Kulturen zu lernen, insbesondere von den westlichen, kapitalistischen Ländern.
Die Reformer gewannen mehr und mehr die Oberhand. Dies zeigte sich auch in einer stark steigenden Zahl von Privatunternehmen. 1993 gab es 237.000 Privatunternehmen in China, ein Jahr später waren es schon 432.000. Das in privaten Firmen investierte Kapital verzwanzigfachte sich in den Jahren 1992 bis 1995. Allein 1992 kündigten 120.000 Staatsbedienstete, um ein privates Unternehmen zu gründen, und zehn Millionen nahmen unbezahlten Urlaub, um sich selbstständig zu machen. Ihnen folgten Millionen Professoren, Ingenieure, Studienabgänger. Sogar die Parteizeitung „People’s Daily“ veröffentlichte einen großen Artikel mit der Überschrift: „Want to Get Rich, Get Busy!
Ein entscheidender Schritt war, dass der 14. Parteitag der Kommunistischen Partei Chinas im Oktober 1992 erstmals offiziell die Marktwirtschaft als Ziel der Reformen verkündete. Das wäre einige Jahre davor noch völlig undenkbar gewesen. Die Reformen gewannen immer mehr an Dynamik. Zwar wurde die Planwirtschaft nicht abgeschafft, aber die Zahl der Preise für Rohstoffe, Transportdienstleistungen und Kapitalgüter, die staatlich festgelegt waren, sank von 737 auf 89 und bis 2001 gar auf nur noch 13. Der Anteil der Produktionsgüter, die zu Marktpreisen gehandelt wurden, stieg von Null Prozent im Jahr 1978 auf 46 Prozent im Jahr 1991 und auf 78 Prozent im Jahr 1995.
Der Prozess der Privatisierung gewann an Fahrt, manche Unternehmen wurden an die Börse gebracht. Im Jahr 1978 produzierten die an die zentralen und lokalen Regierungsbürokratien gebundenen Staatsunternehmen (SOEs) noch 77 Prozent der industriellen Erzeugnisse. Kollektive, nominell im Besitz der Arbeiter, real in der Verfügungsgewalt lokaler Regierungen oder Parteifunktionäre stehende Unternehmen, vereinten damals die übrigen 23 Prozent auf sich. 1996 produzierten die SOEs dagegen nur noch ein Drittel aller industriellen Erzeugnisse. Die Kollektivfirmen, die faktisch oft wie Privatunternehmen geführt wurden, konnten 36 Prozent, private Betriebe 19 Prozent und auslandsfinanzierte Unternehmen zwölf Prozent auf sich vereinen. Zwischen 1996 und 2006 wurde die Zahl der Staatsunternehmen insgesamt halbiert, zwischen 30 und 40 Millionen Beschäftigte in staatlichen Betrieben wurden entlassen.
Wie kam es zu dieser Entwicklung? Es war nie die offizielle Politik der Führung in China, Staatsbetriebe zu privatisieren, sondern man dachte zunächst, es sei möglich, das staatliche Eigentum aufrechtzuerhalten, wenn man den Betrieben genügend Eigenständigkeit gebe und darüber hinaus dem Management ausreichend Anreize. Doch das stellte sich als Irrtum heraus. Schließlich kam es zu zahlreichen spontanen bzw. von den lokalen Regierungen initiierten Privatisierungen. Viele staatliche Betriebe waren unter Wettbewerbsbedingungen nicht überlebensfähig. Durch die Dezentralisierung und die Einführung von Wettbewerb wurde, dies zeigt Zhang Weiying, eine Eigendynamik entfesselt, die schließlich dazu führte, dass der Anteil der staatlichen Betriebe immer weiter zurückging. Der Markt und der Wettbewerb hatten sich wieder einmal als stärker erwiesen als die Ideologie, nach der das Staatseigentum in der „sozialistischen Marktwirtschaft“ eigentlich bewahrt werden sollte.
Entscheidend zum Verständnis der Dynamik der chinesischen Reformen ist, dass sie nur teilweise „von oben“ initiiert wurden. Vieles geschah spontan – die Kräfte des Marktes setzten sich gleichsam urwüchsig durch gegen den Staat. „Die wesentlichen institutionellen Innovationen wurden nicht in den Räumen des Politbüros aus den Taufe gehoben“, schreibt Tobias ten Brink in einer Studie über „Chinas Kapitalismus“, „sondern von zahl- und namenlosen Akteuren vor Ort eingeführt, häufig in Form von informellen, regelverletzenden Strategien.“
„Lasst einige erst reich werden“
Die Entwicklung Chinas zeigt, dass steigendes Wirtschaftswachstum – auch bei gleichzeitig steigender Ungleichheit – den meisten Menschen zugute kommt. Hunderten Millionen Menschen in China geht es heute sehr viel besser, und zwar nicht obwohl es so viele Millionäre und Milliardäre gibt, sondern gerade deshalb, weil Deng die Parole ausgegeben hatte: „Lasst einige erst reich werden.“ Die Chancen für sozialen Aufstieg sind in den vergangenen Jahrzehnten in China ganz erheblich gestiegen. Zugleich hat die Ungleichheit zwischen Arm und Reich in China in diesen Jahren stark zugenommen. 2012 lag der Gini-Index, der die Einkommensungleichheit misst, bei 0,47 für China, wobei er in den Städten niedriger ist als in den ländlichen Gebieten.
Auch wenn es viele sehr positive Entwicklungen in China in den vergangenen Jahrzehnten gab, sind die Reformaufgaben noch gewaltig. Im Jahr 2017 gehörte China zu den Ländern, in denen sich der Grad der wirtschaftlichen Freiheit am stärksten erhöht hat. Das Wirtschaftswachstum in den vergangenen Jahrzehnten ging einher mit einem Wachstum der wirtschaftlichen Freiheit, aber in vielen Bereichen ist China nach wie vor sehr unfrei, so dass es 2017 nur Platz 111 im Ranking der wirtschaftlich freiesten Länder einnahm. Hier besteht ein großer Reformbedarf, was auf der anderen Seite zeigt, dass China sein Potenzial noch längst nicht ausgeschöpft hat. Zhang Weiying, der sicherlich der klügste Analytiker der chinesischen Wirtschaft ist und selbst auch einiges zu ihrer Entwicklung beigetragen hat, betont: „Chinas Reformen starteten mit einer allmächtigen Regierung in einer Planwirtschaft. Der Grund, warum China während des Reformprozesses sein Wachstum fortsetzen konnte, war, dass die Regierung sich weniger einmischte und der Anteil der Staatsbetriebe zurückging, nicht umgekehrt. Gerade die Lockerung der Kontrolle durch den Staat, brachte Marktpreise, Einzelunternehmen, städtische und kommunale Unternehmen, private Firmen, ausländische Unternehmen und andere nicht-staatliche Betriebe ermöglichte.“ All diese war die Basis für den ungeheuren wirtschaftlichen Aufstieg Chinas.
Oft wird der chinesische Weg zum Kapitalismus als ein ganz besonderer Weg wahrgenommen, bei dem der große Einfluss des Staates hervorgehoben wird. Dies liegt jedoch nur daran, dass es sich um eine Transformation von einer sozialistischen Staatswirtschaft zum Kapitalismus handelte. In vielerlei Hinsicht ist der chinesische Weg nicht so außergewöhnlich, betont Zhang Weiying: „Tatsächlich ist Chinas ökonomische Entwicklung grundsätzlich identisch mit der in einigen westlichen Ländern, so wie in Großbritannien während der industriellen Revolution, in den Vereinigten Staaten im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert und in einigen asiatischen Ländern wie Japan und Südkorea nach dem Zweiten Weltkrieg. Sobald Marktmechanismen eingeführt und die richtigen Anreize gesetzt sind, damit Menschen nach Reichtum streben, folgt das Wunder des Wachstums früher oder später.“
Zhang Weying betont, dass dieser Transformationsprozess bis heute nicht abgeschlossen ist und noch viele Reformaufgaben auf eine Lösung warten: „Die staatliche Kontrolle über große Ressourcen und die exzessive Intervention in die Wirtschaft sind der direkte Grund für Günstlingswirtschaft zwischen Beamten und Geschäftsleuten, der Nährboden für Korruption und eine ausgesprochen korrupte Geschäftskultur und beschädigen die Spielregeln des Marktes.“ Daher sieht er einen erheblichen Reformbedarf, insbesondere mit Blick auf die Herstellung von Rechtsstaatlichkeit und eine weitere Liberalisierung. Ob China diesen Weg gehen wird, ist offen. Der Prozess der Marktreformen verlief nie gerade und gleichförmig, sondern es gab – gerade auch in den vergangenen Jahren – immer wieder Rückschritte, wenn etwa der Staat wieder stärker in die Wirtschaft eingriff und Reformen zurücknahm. China wird sich nur dann weiter so positiv entwickeln wie in den vergangenen Jahrzehnten, wenn an dem Grundkurs der Entwicklung in Richtung „mehr Kapitalismus“, der den Erfolg begründet hat, festgehalten wird. „Von den 50er- Jahren bis vor 30 Jahren haben wir an die Planwirtschaft geglaubt“, so Zhang Weiying. „Das Ergebnis war eine gewaltige Katastrophe. Wenn wir weiterhin unsere Hoffnungen auf die staatliche Planung setzen und Chinas Wirtschaft mithilfe großer staatlicher Unternehmen entwickeln wollen, dann haben wir absolut keine Aussichten für die Zukunft. Nur wenn wir uns in Richtung der Logik der Märkte bewegen, wird China eine strahlende Zukunft haben.“
* Der Beitrag ist ein Auszug aus Rainer Zitelmanns kürzlich erschienenem Buch „Kapitalismus ist nicht das Problem, sondern die Lösung“. Leseproben, Interviews und Besprechungen finden Sie hier: http://kapitalismus-ist-nicht-das-problem.de/presse/