Gestern war Annalena Baerbock bei Anne Will. Und wir lernten eine eigenartige Interpretation des Grundgesetzes kennen.
Anne Will hat sich gestern in den ersten Minuten des Interviews mit Annalena Baerbock vor allem auf eine Frage versteift: Ob sie denn nur deshalb Kanzlerkandidatin der GRÜNEN geworden sei, weil sie eine Frau ist. Will wiederholte diese Frage mehrmals, was heute in vielen Medien kritisiert wird. Die FAZ schreibt beispielsweise unter der Überschrift „Überholtes Frauenbild zur besten Sendezeit“:
„Doch was macht Anne Will? Sie stellt Fragen, die auf ein völlig überholtes Rollenbild der Frau schließen lassen. Oder wie soll man diese Ausführung der Moderatorin anders verstehen: „Irgendwie steht ganz blöd im Raum, dass Sie es nur geworden sind, weil Sie eine Frau sind. Kriegen Sie das noch mal abgeräumt?“ Liebe Frau Will, wie kommt man auf so eine erste Frage in einer politischen Diskussionsrunde im 21. Jahrhundert zur besten Sendezeit? Und was denken Sie, könnte/sollte Frau Baerbock allen Ernstes darauf antworten?“
Süddeutsche sieht Baerbock als „Großmeisterin im Fechten“
Die „Süddeutsche Zeitung“ überschlägt sich in Baerbock-Begeisterung und schreibt unter der Überschrift „Baerbock pariert Fragen wie eine Großmeisterin im Fechten“:
„Anne Will hat ihre furchterregendsten Waffen als Talk-Moderatorin gezückt: den Gast unaufhörlich zu unterbrechen, die Teufelsadvokatin zu spielen, nachzubohren bis zur Schmerzgrenze. Alles vergeblich. Annalena Baerbock, erste Kanzlerkandidatin der Grünen und derzeit mitsamt ihrer Partei zumindest in Umfragen Liebling der Wählerherzen, parierte wie eine Großmeisterin im Fechten. Rasches Ausweichen, Doppelschritt vorwärts und rückwärts, Parieren und Arretstoß, der Zwischenstoß mitten in den Angriff des Gegners hinein, oder hier: der Gegnerin. Ist sie als Quotenfrau in ihre neue Rolle gekommen, fragt Anne Will in ihrer ARD-Talkshow am Sonntagabend. Tückische Frage. Doch die Kandidatin ist nicht aus der Fassung zu bringen.“
Wer die Sendung gesehen hat, weiß, dass das völlig abwegig ist. Aber es reiht sich ein in die peinlichen Lobhudeleien der Medien für Baerbock, die Johannes Boie in der WELT AM SONNTAG treffend aufgespießt hat.
Ich bin wirklich kein Anne Will-Fan, aber ich finde, die Kritik an ihr ist in diesem Fall ganz und gar unberechtigt. Es war gut, dass Will mehrfach nachgehakt hat, weil Baerbock eben keinen anderen Grund nennen konnte als ihre Eigenschaft, eine Frau zu sein.
Verlangt das Grundgesetz eine weibliche Kanzlerkandidatin?
So in die Ecke gedrängt, kam Baerbock dann mit dem Grundgesetz. Sie behauptete, es „steht schon in unserem Grundgesetz, dass die Frage von Geschlechter in einer Gesellschaft, wo wir aber noch nicht bei kompletter Gleichberechtigung sind, auch bei solchen Entscheidungen mit eine Rolle spielt.“ Das heißt in diesem Kontext: Baerbock behauptet allen Ernstes, es stehe im Grundgesetz, dass „bei solchen Entscheidungen“ die Tatsache, dass sie eine Frau ist, eine Rolle spielen müsse, und zwar deshalb, weil noch keine „komplette Gleichberechtigung“ herrsche. Das ist freilich eine Verdrehung der Tatsachen.
Artikel 3 GG lautet seit seiner letzten Veränderung vom 15. November 1994 wie folgt:
„(1) Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.
(2) Männer und Frauen sind gleichberechtigt. Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin.
(3) Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.“
Was meint Baerbock mit der Formulierung „bei solchen Entscheidungen“? Darüber, wie ein Kanzlerkandidat bestimmt wird, steht gar nichts im Grundgesetz und auch nichts zu ähnlichen Entscheidungen. Baerbock spielt offenbar auf Art. 3 Abs. 2 an, wonach der Staat die „tatsächliche Durchsetzung von Gleichberechtigung“ fördern könne. Aber erstens geht es hier nicht um eine staatliche Entscheidung, sondern um die einer Partei und zweitens ist es nach mehr als 15 Jahren Kanzlerschaft einer Frau in Deutschland absurd zu unterstellen, im Hinblick auf die Kanzlerschaft gebe es Defizite bei der „tatsächlichen Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern“ oder Frauen hätten hier „Nachteile“.
Vor allem: Anne Will hakte mehrfach nach, ob es denn noch weitere Gründe dafür gegeben habe, Baerbock zur Kanzlerkandidatin zu machen, außer dem, dass sie eine Frau sei. Wenn Baerbock auf diese Frage mit dem Hinweis auf die entsprechende Formulierung im Grundgesetz antwortet, bestätigt sie nur das, was Will fragte: „Sagen Sie uns damit nicht dann doch, dass Sie es im Grunde nur sind, weil sie eine Frau sind und weil Frauen in ihrer Partei traditionell das erste Zugriffsrecht haben?“
Richtig. Ich dachte nicht, dass ich Anne Will mal verteidigen muss. Doch sie hat sehr gut gefragt – und – Baerbock hat sehr entlarvend geantwortet. Ich werde trotzdem kein Freund von Anne Will, zumindest nicht so lange nicht, wie sie uns mit ihrem Gender-Schluckauf-Sprech nervt.
Hier, etwa bei Minute 1:30 bis 2:30 finden Sie die entscheidende Passage.