Interview im EUROPEAN: „Die Deutschen waren immer schon staatsgläubig“

Erschienen am 24. April 2021

Dr. Dr. Stefan Groß hat Dr. Dr. Rainer Zitelmann für den EUROPEAN interviewt.

EUROPEAN: Es grünt so grün in Deutschland: Was erwarten Sie 2021 für die Bundestagswahl rot-rot-grün oder schwarz-grün?

ZITELMANN: Das kann man heute nicht sagen. Aber wenn es rechnerisch reichen sollte, werden die Grünen nicht mit der Union, sondern mit der SPD und der Linken zusammengehen. Baerbock will ja lieber Kanzlerin mit einem Vizekanzler Scholz werden als Vizekanzler unter einem Kanzler, den die Union stellt. Aber eines ist gewiss: Die Grünen und die SPD werden das vor den Wahlen niemals klar sagen, sondern die Wähler täuschen und im Unklaren lassen, um nicht bestimmte Wählergruppen durch die Wahrheit zu verprellen.

EUROPEAN: Wie stark ist die Union von den 68ern geprägt und war es erst die Kanzlerin, die diese Links-Mitte-Verschiebung initialisierte?

ZITELMANN: Nein, das ist ein großer Irrtum, der durch mein Buch „Wohin treibt unsere Republik?“ widerlegt wird. Merkel hat nur eine Entwicklung vollendet, die sehr viel früher begonnen hat. Ich habe das Buch ja 1994 geschrieben, und ein ganzes Kapitel der Linksentwicklung der Union gewidmet. In dem Kapitel hatte ich geschrieben, mit der sogenannten Modernisierung der Union sei „im Grund jedoch nichts anderes gemeint als die Anpassung an den von 1968 geprägten Zeitgeist“. Und: „Bei vielen Fragen ist es heute schon so, dass die Grünen die Richtung vorgeben, dann die SPD nachzieht und schließlich die Union mit einem deutlichen Verzögerungseffekt nachhinkt.“

EUROPEAN: Elektroautos, Treibhaus-Emissionen senken. Immer mehr Verbote kommen aus der Politik – und auch von den Grünen. Warum lassen wir uns das bieten? Oder ist Deutschland einfach der Politik müde?

ZITELMANN: Die Deutschen waren immer schon staatsgläubig. Und wenn es große Probleme gibt – wirkliche oder scheinbare – wird immer nach dem Staat gerufen. Es wird seit Jahren ständig vom Marktversagen gesprochen, aber ich spreche vom Staatsversagen. Man sieht das ja jetzt in der Corona-Krise: Der Staat ist vollkommen unvorbereitet und reagiert chaotisch. Da funktioniert nichts, angefangen von der Impfstoffbeschaffung über die nicht funktionierende App bis hin in die Gesundheitsämter. Was funktioniert hat, sind kapitalistische Unternehmen, also die stets als „Big Pharma“ diffamierten Firmen. Es sieht jedoch so aus, als ließen sich die Deutschen dadurch nicht beirren. Meine These: Der Staat ist viel zu stark, wo er schwach sein sollte (in der Wirtschaft) und viel zu schwach, wo er stark sein sollte (also z.B. in der äußeren und inneren Sicherheit, wozu auch die Corona-Bekämpfung gehört).

EUROPEAN: „Zwar entscheiden die Wähler alle vier Jahre über die Wiederwahl eines Politikers bzw. einer Partei, aber die Medien können praktisch täglich darüber entscheiden, ob Verfehlungen eines Politikers zum ‚Skandal’ werden“, so Ihr Argument. Was hat sich in den letzten 30 Jahren in der medialen Welt verändert?

ZITELMANN: Das Zitat entstammt meinem Buch, in dem ich mich ausführlich mit der Macht der Medien auseinandersetze. Diese Macht ist nach wie vor groß, und zwar vor allem, weil die Politiker an diese Macht glauben und sich mehr nach den Medien ausrichten als nach ihren Wählern. Früher war es ja in der Tat so: Alle Menschen haben drei Fernsehprogramme geschaut und Tageszeitungen gelesen – und im Wesentlichen die Meinungen übernommen, die dort vertreten wurden. Heute schauen überwiegend Leute in meinem Alter Fernsehen oder lesen Zeitung. Die jungen Menschen werden doch viel stärker durch soziale Medien geprägt und auch viele Ältere stehen Medien skeptisch gegenüber. Trotzdem verhalten sich die Politiker so, als seien die Medien noch allmächtig. Mich bringt das bei meiner eigenen Partei, der FDP, oft zur Verzweiflung, die nur deshalb nicht klarer Position bezieht, weil sie Angst hat vor dem linken Mainstream.

EUROPEAN: Die CDU ist gespalten: Links, konservativ Mitte. Wie weiter, oder zerfällt sie, wenn sie zum Markenkern eines „kritisch-national orientieren Konservativismus“ nicht zurückkehrt?

ZITELMANN: Die CDU hat heute als Partei weder ein positives Verhältnis zur Marktwirtschaft noch ein positives Verhältnis zur Nation. Früher gab es einen Flügel in der CDU, der das abgedeckt hat, beispielsweise ein Alfred Dregger. Ich denke, unter den Mitgliedern gibt es immer noch welche, die so denken, aber die Funktionäre denken mehrheitlich nicht so, wie die Wahl von Laschet gezeigt hat. Ich bin ein großer Fan von Wolfgang Bosbach, aber der ist ja resigniert und hat das Handtuch geworfen. Selbst in der CSU ist jemand wie mein Freund Peter Gauweiler nicht mehr in führender Position denkbar. Da dominieren gnadenlose Opportunisten wie Markus Söder, ergänzt durch linke Antikapitalisten wie den Entwicklungshilfeminister Gerd Müller. Ich hoffe ja nach wie vor, dass die FDP die Lücke erkennt, die dadurch entstanden, dass sich die CDU immer mehr Richtung Linksgrün und die AfD immer mehr Richtung „Sozialpatriotismus“ und Rechtsaußen entwickelt hat.

EUROPEAN: Sie haben in Ihrem Buch „Wohin treibt unsere Republik?“, das 1994 zuerst erschienen war und 2021 wieder neu aufgelegt wurde, eine Partei rechts der CSU vorausgesagt. Doch die AfD ist am Ende oder?

ZITELMANN: Ich habe vorausgesagt, dass sich eine solche Partei neu gründen wird, das stimmt. Ich habe aber in dem Buch auch hinzugefügt, dass sich diese Partei nach ihrer Gründung immer weiter nach rechts entwickeln wird. Beide Thesen habe ich ausführlich begründet – es würde zu weit führen, diese Begründungen hier darzustellen. Jeder kann sie in dem Buch nachlesen, auf Seite 195 f. Beides ist dann ja auch genauso eingetreten. Wer das nachliest, der versteht, warum sich die AfD von einer konservativ-wirtschaftsliberalen Partei immer mehr in Richtung einer „sozialpatriotischen“ Rechtsaußen-Partei entwickelt hat.

EUROPEAN: Die FDP will wieder, nachdem sie sich bei der letzten Bundestagswahl gedrückt hatte. Es sei „besser, nicht zu regieren, als falsch zu regieren,“ hatte 2017 FDP-Chef Lindner erklärt! Was muss die FDP anders machen?

ZITELMANN: Ich fand es absolut richtig, wie Lindner sich damals entschieden hat. Die FDP hätte keine Chance gehabt, in einer Koalition mit Merkel und den Grünen irgendwelche Positionen durchzusetzen. Leider scheint es mir im Moment so, als wolle sie regieren um jeden Preis und als habe der Satz „besser nicht zu regieren, als falsch zu regieren“ keine Gültigkeit mehr. Die FDP ist vor allem zu ängstlich. Ich habe viel Kontakt zu vielen Bundestagsabgeordneten der FDP, der ich ja seit 1995 angehöre. Ich weiß daher zum Beispiel, dass viele für Kernenergie sind. Aber die Partei traut sich nicht, das zu sagen. Ich fand es auch falsch, dass sich die FDP nach der Kemmerich-Wahl zwei Wochen lang täglich mehrfach dafür entschuldigt hat. So gewinnt man weder Respekt bei den eigenen Wählern noch bei Gegnern. Mir gefällt das aktuelle Buch von Kubicki über Meinungs(un)freiheit.

Leider kommt das wichtige Thema „geistige Freiheit“ bei der FDP in der Tagespolitik jedoch nicht vor. Ich würde es, neben der wirtschaftlichen Freiheit, zum zentralen Thema der FDP machen.

EUROPEAN: Sie haben immer vor rot-rot-grünen Koalitionen gewarnt? Warum eigentlich?

ZITELMANN: Man muss ja nur in die Hauptstadt schauen, um zu sehen, was das praktisch bedeutet. Mir ist völlig unbegreiflich, warum Union und FDP nicht täglich auf Bundesebene thematisieren, was dort in Berlin passiert. Schauen Sie mal, in Berlin wird offener Verfassungsbruch betrieben durch einen sog. „Mietendeckel“, den das Land Berlin nie hätte beschließen dürfen. Hier wird rücksichtslos in Eigentumsrechte und die Vertragsfreiheit eingegriffen. Hausbesitzer werden gezwungen, in bestehenden Mietverträgen die Mieten massiv zu senken. Die Berliner Linksregierung bekommt es hin, ein Dokument mit über 40 Seiten Sprachvorschriften für politisch korrektes Sprechen auszuarbeiten, aber gleichzeitig kann sie nicht verhindern, dass täglich zwei Autos brennen, allein im vergangenen Jahr waren es 700. Ganz zu schweigen davon, dass kriminelle Clans Teile der Stadt längst beherrschen.

EUROPEAN: Der Chef des Weltwirtschaftsforums Klaus Schwab träumt von einer großen Transformation, kommt da wieder jene Vision des Sozialismus und planwirtschaftlichen Denkens ins Spiel, vor dem Sie immer gewarnt haben?

ZITELMANN: Schwab ist ein großer Zeitgeist-Opportunist. Ich glaube allerdings nicht an die Theorien von Verschwörungsspinnern, die meinen, da werde gezielt von den Eliten an irgendeinem finsteren Plan gearbeitet. Das sind einfach Leute ohne Prinzipien, die sich opportunistisch dem Zeitgeist um jeden Preis anpassen wollen.

EUROPEAN: Der Staat wird immer stärker, der Einflussbereich der Marktwirtschaft schrumpft, will man eine Art sozialistischen Kapitalismus?

ZITELMANN: Sozialistischen Kapitalismus gibt es nicht, das wäre ja wie ein rundes Quadrat. Ich habe in meinem Buch „Kapitalismus ist nicht das Problem, sondern die Lösung“ eine Theorie entwickelt: Alle Systeme sind Mischsysteme aus Kapitalismus und Sozialismus. Dabei kommt es nicht auf das absolute Mischungsverhältnis an, sondern darauf wie es sich verändert: Entweder die Elemente von Privateigentum und Markt werden gestärkt, wie das etwa seit den 80er Jahren in China geschehen ist. Oder der Staat wird gestärkt, wie in Venezuela seit 1999. Das Ergebnis können wir in beiden Ländern beobachten. Dieses Buch mit seinen Warnungen ist übrigens die zeitgemäße Fortsetzung von „Wohin treibt unsere Republik?“, nach der ich manchmal gefragt werde.

EUROPEAN: Haben eigentlich die Reichen doch an allem Schuld und bräuchten wir nicht eine gerechtere Verteilung aller Güter auf dieser Erde, wie es Papst Franziskus fordert? Sie sind der Verfechter einer ganz anderen These, aber was macht diese anders und vor allem, was ist das Argument, das diese wirklich alternativlos ist.

ZITELMANN: Der Papst sollte sich lieber auf die Verkündung der Botschaft Gottes fokussieren als sich zu Wirtschaftsthemen zu äußern, von denen er ganz offensichtlich nicht das Geringste versteht. Die Reichen waren schon immer Sündenbock für gesellschaftliche Fehlentwicklungen. Dabei sind mehr Reiche gleichbedeutend mit weniger Armen. Sie sehen auch das am Beispiel China: 1981 lebten noch 88 Prozent der Chinesen in extremer Armut. Dann kam Deng Xiaoping mit seiner Parole: „Lasst erst mal einige reich werden!“ So ist es geschehen. Heute gibt es nirgendwo so viele Milliardäre auf der Welt wie in China (mit Ausnahme der USA). Die Zahl der Chinesen, die in extremer Armut leben, ist seitdem auf unter 1 Prozent gesunken. Deng Xiaoping hat 1000 Mal mehr gegen die Armut getan als der Papst. Ich möchte den Lesern hier kostenlos als Hörbuch das Kapitel aus meinem Kapitalismus-Buch zur Verfügung stellen, in dem ich diese Entwicklung in China beschreibe.

Leseproben und Bestellmöglichkeit zu dem Buch: „Wohin treibt unsere Republik. Wie Deutschland links und grün wurde“

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