BILD-Chefredakteur Julian Reichelt ist vorübergehend beurlaubt – bis Vorwürfe gegen ihn geklärt sind. Manches, was ihm vorgeworfen wird, ist offenbar absurd.
Vergangene Woche hatte der „Spiegel“ zuerst über ein internes Verfahren gegen den Bild-Chefredakteur berichtet. „Rund ein halbes Dutzend Mitarbeiterinnen“ hätten Beschwerden gegen Reichelt vorgebracht, es gehe um Mobbing, Nötigung, Machtmissbrauch.
Ich habe die Kommentare von Reichelt oft sehr geschätzt. Er hatte keine Angst, sich mit den Mächtigen anzulegen – auch nicht mit Angela Merkel. Zuletzt hatte er deren Versagen in der Corona-Krise angeprangert und die „europäische Lösung“ bei der Impfstoffbeschaffung scharf kritisiert. Politische Korrektheit ist ein Fremdwort für ihn. Und das hat BILD sehr gut getan.
Naturgemäß ist es für einen Außenstehenden nicht möglich, alle Vorwürfe zu beurteilen – so etwa die „Me-too“-Vorwürfe, die in solchen Zusammenhängen ja schon üblich sind. Aber manche Vorwürfe sind so offenkundig absurd, dass man sie auch als Außenstehender beurteilen kann, und zwar deshalb, weil sie auch dann, wenn sie zuträfen, eine Freistellung niemals rechtfertigen könnten.
Die Medien-Fachzeitschrift HORIZONT schrieb: „Jeder konnte es in der kurz vor Weihnachten angelaufenen Amazon-Prime-Serie über Bild selbst verfolgen: Reichelt ist sehr direkt und impulsiv, sein Umgang mit Mitarbeitern oft sehr ruppig. Treffen kann sein Furor jüngere Kollegen ebenso wie ältere, Schwarze wie Weiße, Frauen wie Männer, und er macht auch vor Autoritäten nicht halt. Selbst bei Details kennt er kein Erbarmen. Sieht er sich im Recht, was meistens der Fall ist, redet er alle und jeden in Grund und Boden. Vor zehn oder zwanzig Jahren wäre ein solcher Umgangston nicht der Rede wert gewesen, erst recht nicht bei Bild. Redaktionen wurden autoritär und patriarchalisch geführt. Chefredakteure, die in Stresssituationen herumbrüllten, waren keine Seltenheit, manche warfen auch mal mit Gegenständen um sich, schmissen Redakteure hinaus, um sie am nächsten Tag wieder zu sich zu zitieren, oder schlossen Reporter ein, bis endlich der Text fertiggeschrieben war.“
Top-Leute in der Wirtschaft sind oft „schwierige Menschen“
Dazu fiel mir ein, was ich in meinem Buch „Setze dir größere Ziele“ über Top-Leute in der Wirtschaft geschrieben habe. Bill Gates und Steve Jobs haben mit Microsoft und Apple Milliarden-Imperien geschaffen. Und das, obwohl sie einst schwierige Chefs waren und ihre Mitarbeiter sogar in Angst und Schrecken versetzten.
Unternehmer wie Bill Gates oder Steve Jobs konnten ihre Mitarbeiter inspirieren, motivieren und begeistern. In dieser Hinsicht waren sie großartige und vorbildliche Führungspersönlichkeiten. Aber sie hatten auch eine andere Seite und waren überaus schwierige Chefs. Für sie war es nicht leicht, mit Mitarbeitern zurechtzukommen, die weniger begabt waren als sie selbst.
Nehmen wir beispielsweise den Microsoft-Gründer Bill Gates, einen der erfolgreichsten Unternehmer der Geschichte. Er ist in mancher Hinsicht das genaue Gegenteil dessen, was in der Managementliteratur propagiert wird. Gates, der schon als Schüler oft mit den Lehrern aneinander geriet, war dafür bekannt, den Mitarbeitern (die oftmals bis spät in die Nacht arbeiteten) mitten in der Nacht Mails zu schicken, die beispielsweise so begannen: „Das ist aber das blödeste Stück Code, das mir je unter die Augen gekommen ist.“ Die Mitarbeiter sprachen von „Flammenpost“ – seine Botschaften waren „oft grob und sarkastisch“.
Schon vor der Gründung von Microsoft war er für seine Tobsuchtsanfälle bekannt, so heißt es in der Biographie von James Wallace und Jim Erickson. Als er noch mit dem Unternehmen MITS zusammenarbeitete, so erinnert sich dessen Chef, gab es ständig Szenen wie etwa diese: „Er kam in mein Büro und schrie aus Leibeskräften, dass ihm seine Software rechts und links nur geklaut und dass er selbst nie was dran verdienen würde und dass er keinen Finger mehr krumm machen würde, wenn ich ihm nicht ab sofort ein festes Gehalt zahlte.“
Gates, so berichten Mitarbeiter, schaukelte oft in seinem Stuhl hin und her, starrte dabei ins Leere, als ob er mit seinen Gedanken woanders sei. „Dann plötzlich, wenn er etwas hörte, das ihm nicht passte oder das ihn ärgerte, hörte er auf zu schaukeln, setzte sich gerade hin und wurde sichtlich wütend, wobei er manchmal seinen Bleistift hinwarf. Um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, schrie er und schlug mit der Faust auf den Tisch.“ Ein Produktmanager von Microsoft erinnert sich: „Er tyrannisierte die Leute“. Wenn man einen Menschen mit seiner intellektuellen Überlegenheit plattmacht, hat man die Schlacht noch lange nicht gewonnen, aber das wusste er nicht.“
Selbstverständlich sind die Berichte über die cholerischen Ausbrüche von Gates nur die eine Seite der Medaille. Auf der anderen Seite verstand er es wie kaum ein anderer Unternehmer, seine Mitarbeiter für ein gemeinsames Ziel zu begeistern und zu motivieren.
Ähnlich war es bei dem Apple-Gründer Steve Jobs, über den Jeffrey Young und William Simon in ihrer Biographie schreiben: „Auf der einen Seite fand man Steve nervtötend, frustrierend und unerträglich, doch auf der anderen Seite folgte man seiner Fanfare und tanzte bereitwillig, wenn nicht sogar freudig, nach seiner Pfeife.“
Teilweise stellte Jobs ziemlich absurde Regeln auf, so durfte etwa niemand außer ihm an das Whiteboard schreiben. Als Alvy Ray Smith, einer der beiden Mitbegründer des Unternehmens Pixar, gegen diese Regel verstieß und einen Marker in die Hand nahm, um etwas an das Whiteboard zu schreiben, sei Jobs regelrecht explodiert: „Das darfst Du nicht.“ „Sprachlos vor Verblüffung erlebte Alvy, wie Steve sich vorbeugte, bis sie fast mit den Nasen zusammenstießen, und ihn mit beleidigenden, erniedrigenden und verletzenden Worten beschimpfte.“ Daraufhin kündigte Smith nach 15 Jahren Unternehmenszugehörigkeit.
Jobs umgab, so seine Biographen, eine „Aura von Furcht … wie eine dunkle Wolke“. „Niemand wollte aufgefordert werden, vor ihm eine Produkt-Präsentation durchzuführen, denn es war nur allzu gut möglich, dass er das Produkt von der Liste strich und den Zuständigen gleich mit dazu. Niemand wollte ihm auf dem Flur begegnen, denn womöglich gefiel ihm eine Antwort nicht, die man ihm gab, worauf er dann in so herablassender Weise konterte, dass man wochenlang um neues Selbstbewusstsein kämpfte. Und ganz sicher wollte niemand sich mit ihm im selben Fahrstuhl wiederfinden, denn noch ehe die Türen aufglitten, konnte man seinen Job los sein.“
Rupert Murdoch: „Kalt, ungeduldig, grausam“
Das sind nur zwei Beispiele. Der Medienmogul Rupert Murdoch, so schreibt dessen Biograph, sei „nicht darauf angewiesen, gemocht zu werden, ja anscheinend mag er es noch nicht einmal, wenn er gemocht wird“. Und dennoch gelang es ihm immer wieder, seine Mitarbeiter im Höchstmaß zu motivieren. „Gegenüber seinen Angestellten … kann er sich kalt, ungeduldig, rein geschäftsmäßig, sogar grausam verhalten. Und doch finden sie es spannend, für ihn zu arbeiten, und sie haben das Gefühl, es bei ihm zu etwa bringen zu können – und dies auch schon zu einer Zeit, in der er noch nicht viel getan hat, um ihn mit aufregenden Deals oder größeren Aufstiegsmöglichkeiten in Verbindung zu bringen.
David Ogilvy, der große Werbemann, war ebenfalls nicht einfach im Umgang. Ogilvy, schreibt sein Biograph, „hatte keine Skrupel, seine Maßstäbe durchzusetzen“. Einer seiner Texter berichtete: „Man brauchte schon ein dickes Fell, um aus Besprechungen mit Ogilvy lebend herauszukommen, außer man hatte seine Hausaufgaben gemacht und seine Strategie perfekt umgesetzt … Er war sich nicht zu gut, den Schuldigen ins Visier zu nehmen und persönlich anzugreifen. Ebenso wie De Gaulle war er der Überzeugung, Lob müsse ein seltenes Gut bleiben, um diese Währung nicht zu entwerten.“
Wenn Ogilvy Texte seiner Mitarbeiter las, dann war das, „wie sich unter das Messer eines Chirurgen legen zu müssen, der mit schlafwandlerischer Sicherheit seine Hand auf die schmerzempfindlichste Stelle legte. Man spürte es fast körperlich, wenn Ogilvy seinen Finger auf das falsche Wort, die unpassende Wendung oder den unvollständigen Gedankengang legte.“
Nach den Maßstäben, die an Reichelts Verhalten angelegt werden, hätten all diese Leute entlassen werden müssen, aber nur einem ist es passiert, nämlich Steve Jobs. Zum Glück waren sie Unternehmer, so dass sie nicht von irgendwelchen „Compliance Abteilungen“ abhängig waren.
Teile dieses Beitrages sind Auszüge aus Rainer Zitelmanns Buch „Setze dir größere Ziele“, das in 11 Sprachen übersetzt wurde.