Corona-Krise: Warum die meisten Menschen die Risiken falsch einschätzen

Erschienen am 15. März 2020

Die Corona-Krise bestätigt, was wir aus der psychologischen Forschung wissen: Die meisten Menschen, egal ob sie mehr oder weniger gebildet sind, können Risiken nicht richtig einschätzen. In der Corona-Krise zeigen sich meist diejenigen sehr besorgt, die immer sehr besorgt sind und jene unbesorgt, die immer unbesorgt sind. Das deutet schon darauf hin, dass Risiken nicht angemessen wahrgenommen werden. Der richtige Hinweis darauf, dass in der Vergangenheit oftmals von Medien Risiken als zu groß dargestellt wurden, die in Wahrheit viel geringer waren, ist jedoch kein Beleg dafür, dass es sich diesmal genauso verhält.

Der Psychologe und Risikoforscher Gerd Gigerenzer weist in seinem Buch „Risiko“ darauf hin: Studien zeigen, dass viele Menschen fürchten, was sie wahrscheinlich nie verletzen oder töten wird, während sie fröhlich gefährlichen Verhaltensweisen frönen. Oft werden Risiken als enorm hoch eingeschätzt, wenn Medien spektakulär darüber berichten. Andere Risiken, die in Wahrheit viel höher sind, werden unterschätzt. Erinnern Sie sich noch an den sogenannten Rinderwahn BSE? Was schätzen Sie, wie viele Menschen im Laufe von zehn Jahren in Europa an den Folgen des Rinderwahns starben? Es waren ungefähr 150 – das sind genauso viele, wie es im gleichen Zeitraum tödliche Unfälle durch das Trinken von parfürmiertem Lampenöl gab. Im Herbst 2009 gab es eine weltweite Hysterie wegen der sogenannten Schweinegrippe und die WHO verbreitete Panik mit der Nachricht, es könnten bis zu zwei Milliarden Menschen infiziert werden. Tatsächlich gab es nicht einmal 20 Todesfälle.

Nach dem Terroranschlag des 11. September entschieden sich viele Menschen, statt dem Flugzeug das Auto zu benutzen. Die Statistik belegt, dass durch diese Entscheidung vieler Amerikaner, in den Monaten nach dem 11. September lieber auf das Auto umzusteigen, zusätzlich (!) 1600 Menschen durch Autounfälle umkamen

Hat häufiger Fehlalarm zu falscher Sorglosigkeit geführt?

Und nun die Kehrseite: Es gibt Menschen, die immer wieder die Erfahrung gemacht haben, dass Medien Fehlalarm ausgelöst haben. Diese tendieren irgendwann dazu, jeden Alarm als Fehlalarm zu deuten, auch wenn diesmal der Alarm berechtigt sein sollte. Bei der Corona-Krise könnte dies zu einer Sorglosigkeit bei vielen Menschen führen.

Ich selbst gehöre zu den Menschen, die weder Angst hatten, nach dem 11. September ein Flugzeug zu besteigen (weil ich das Risiko für sehr gering hielt) und die sich weder durch Schlagzeilen vom Ozon-Loch noch über „Dioxin-Eier“ oder Schweinegrippe beirren ließen. Auf dem Höhepunkt der BSE-Panik schrieb ich für „Die Welt“ einen Artikel, in dem ich mich über diese Panik lustig machte. Ich hatte bei der Verbraucherzentrale angerufen und wollte wissen, worüber sich die Menschen ängstigen. Manche hatten gefragt, ob man noch Lederschuhe tragen dürfe oder dadurch die Gefahr bestehe, sich mit Rinderwahn anzustecken. Damals habe ich noch Fleisch gegessen und es machte mir Freude, meine besorgten Mitmenschen zu schocken, indem ich noch häufiger extragroße Steaks verzehrte.

Selbst im sehr optimistischen Szenario besteht große Gefahr

Bei der Corona-Krise dagegen gehöre ich – ausnahmsweise – zu den Besorgten, die meinen, dass es mehr Menschen gibt, die die Risiken unterschätzen als solche, die sie überschätzen. Jeder hat eine andere Art zu denken, aber ich persönlich denke immer in Zahlen. Das ist natürlich in diesem Fall schwer, weil es wenig verlässliche Zahlen gibt. Nehmen wir jedoch die Zahlen, die wir derzeit zur Verfügung haben: Schätzungen besagen, dass sich 60-70 Prozent der Menschen in Deutschland irgendwann mit dem Corona-Virus anstecken werden, das wären bis zu 58 Millionen. Nehmen mir mal sehr optimistisch an, diese Schätzungen seien grob übertrieben, und am Ende seien es nur 20 Prozent der Bevölkerung, weil es durch die beschlossenen Maßnahmen gelingt, etwa zwei Drittel der Infektionen zu vermeiden. Das wären dann immer noch 16,6 Millionen infizierte Deutsche. Es heißt, für 80 Prozent der Infizierten sei der Verlauf harmlos. Seien wir auch hier wieder optimistisch und nehmen an, für 90 Prozent (der bei optimistischer Annahme nur 16,6 Mio. Infizierten) sei der Verlauf harmlos. Dann haben wir es mit ca. 1,7 Millionen Menschen allein in unserem Land zu tun, bei denen mit einem schweren Verlauf zu rechnen ist. Das ganze Bestreben der Regierung geht ja derzeit dahin, die Infektionen zu verlangsamen und auf einen längeren Zeitraum zu verteilen. Seien wir noch mal sehr optimistisch und nehmen an, dass dies in hohem Maße gelingt und vermuten, dass sich das auf einen langen Zeitraum streckt und zu einem bestimmten Zeitpunkt nur zehn Prozent der eben auf Basis mehrfach optimistischer Annahmen ermittelten 1,7 Millionen Menschen davon betroffen sind. Das wären 170.000 Menschen. Intensivbetten gibt es in Deutschland laut Auskunft des Bundesgesundheitsministers derzeit 29.000, davon sind aber 80 Prozent belegt, also nur ca. 6000 frei. Selbst wenn es irgendwie gelingen sollte, diese Zahl auf 18.000 zu verdreifachen, ist die Diskrepanz zu den erforderlichen Betten so groß, dass mir die Fantasie fehlt, wie es gelingen kann, die Menschen angemessen zu versorgen. Wer sich jetzt ansteckt, hat gute Chancen, gut behandelt zu werden. Aber wie sieht es mit den Menschen aus, die sich in zwei Monaten anstecken?

Natürlich sind das alles willkürliche Annahmen, die jedoch eher zu optimistisch als zu pessimistisch sein dürften. Ich will damit nur zeigen, dass selbst bei sehr optimistischen Annahmen großer Grund zur Sorge besteht. Und ich habe hier nur von den gesundheitlichen Folgen gesprochen und nicht von den möglicherweise schwerwiegenden Folgen für die Wirtschaft und das Finanzsystem. Die meisten Menschen, das beobachte ich in allen Gesprächen, stellen solche Überlegungen jedoch gar nicht an, sondern schätzen das Risiko so ein, wie sie stets andere Risiken eingeschätzt haben, also entweder als hoch oder niedrig.

Selbst wenn Sie sorglos sind, sollten Sie mit der Panik Ihrer Mitmenschen rechnen. Es ist wie an der Börse, wo man auch mit der zweiten, dritten und vierten Ableitung rechnen muss. Konkret: Sie glauben, für Hamsterkäufe bestehe objektiv nicht der geringste Anlass? Wenn es aber eine Vielzahl von Menschen gibt, die das ganz anders sehen, könnten Sie dennoch irgendwann vor leeren Regalen stehen und behaupten, Sie hätten trotzdem Recht gehabt.

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Über den Autor

Rainer Zitelmann ist einer der führenden Immobilienexperten und -netzwerker in Deutschland.