Am 8. Mai 2020 jährt sich zum 75. Mal der Tag, an dem Deutschlands am Vortag unterzeichnete Kapitulation in Kraft trat. In der DDR war dieses Datum als „Tag der Befreiung vom Faschismus“ gefeiert worden – auch in Berlin wird der 8. Mai dieses Jahr als Feiertag begangen.
Vor 25 Jahren gab es eine große Kontroverse um die Bewertung des Tages – eine Kontroverse, die ich mit einer Zeitungsanzeige ausgelöst hatte. Ein Rückblick ist aufschlussreich – hier der Ausschnitt aus meiner Autobiografie:
„Die Freiheit hat Geburtstag“
Im Vorfeld des 50. Jahrestages entwickelte sich, wie der „Spiegel“ am 24. April 1995 beobachtete, „eine nicht mehr überschaubare Basisbewegung…: Kirchengemeinden, Geschichtswerkstätten, Schulklassen, Anti-Rassismus-Initiativen oder Schwulengruppen überziehen das Land mit einem dichten Netz von Ausstellungen, Tagungen, Lesungen und Gedenkfeiern. … Auf Initiative Michel Friedmans, Präsidiumsmitglied im Zentralrat der Juden, und des Hamburger Intendanten Jürgen Flimm unterzeichneten ZDF-Chef Dieter Stolte, der ARD-Vorsitzende Jobst Plog, aber auch die Chefredaktionen von Brigitte, Focus, Stern oder Max den Aufruf ‚8. Mai 1995: Die Freiheit hat Geburtstag. Engagieren wir uns!’ Die Meinungsmacher proklamieren einen ‚Tag der Erinnerung und Hoffnung, den wir nicht allein den Parteien und Politikern überlassen wollen’. Den gern geschmähten Politikern mit ihren erstarrten Kranzabwurf-Ritualen Konkurrenz zu machen reizt so manchen guten Menschen. Und so werden Peter Maffay, die ‚Toten Hosen’,
Udo Jürgens und viele andere am 7. Mai im Hamburger Thalia Theater die Befreiung besingen. Das ZDF überträgt live.“
Was Theodor Heuss zum 8. Mai sagte
Das fand ich bedenklich und nicht angemessen, weil es der Komplexität und Ambivalenz dieses Tages in keiner Weise gerecht wurde. Daher formulierte ich einen Aufruf, der als Anzeige in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ erschien und für den ich – zusammen mit Heimo Schwilk, Ulrich Schacht und Klaus Rainer Röhl – Hunderte Unterschriften sammelte. Das Vorgehen entsprach meiner Meinung, die ich in diesen Jahren immer wieder prononciert vertreten hatte: Wer die öffentliche Meinung beeinflussen und Diskussionen auslösen wolle, müsse von den erfolgreichen Methoden der Linken lernen.
Der Aufruf begann mit einem Zitat des ersten Bundespräsidenten der Bundesrepublik Deutschland, Theodor Heuss (FDP). Der Text unter der Überschrift „8. Mai 1945 – gegen das Vergessen“ war knapp gehalten – und doch haben keine anderen Sätze, die ich in meinem Leben verfasste, so viel Aufregung verursacht wie diese 128 Worte, die erstmals am 7. April 1995 auf Seite 3 der FAZ erschienen:
„’Im Grunde genommen bleibt dieser 8. Mai 1945 die tragischste und fragwürdigste Paradoxie für jeden von uns. Warum denn? Weil wir erlöst und vernichtet in einem gewesen sind.’ Die Paradoxie des 8. Mai, die der erste Bundespräsident unserer Republik, Theodor Heuss, so treffend charakterisierte, tritt zunehmend in den Hintergrund. Einseitig wird der 8. Mai von Medien und Politikern als ‚Befreiung’ charakterisiert. Dabei droht in Vergessenheit zu geraten, dass dieser Tag nicht nur das Ende der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft bedeutete, sondern auch den Beginn von Vertreibungsterror und neuer Unterdrückung im Osten und den Beginn der Teilung unseres Landes. Ein Geschichtsbild, das diese Wahrheiten verschweigt, verdrängt oder relativiert, kann nicht Grundlage für das Selbstverständnis einer selbstbewussten Nation sein, die wir Deutschen in der europäischen Völkerfamilie werden müssen, um vergleichbare Katastrophen künftig auszuschließen.“ So weit der Anzeigentext.
Eine FAZ-Anzeige sorgt für Furore
Zu den prominenten Ernstunterzeichnern gehörten der damalige Entwicklungshilfeminister Carl-Dieter Spranger (CSU) und der Ehrenvorsitzende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion Alfred Dregger sowie der ehemalige Bundesminister Hans Apel (SPD). Unterschriften kamen auch von den ehemaligen Landesministern der CSU bzw. CDU, Peter Gauweiler und Heinrich Lummer, vom ehemaligen Bundesminister Friedrich Zimmermann (CSU), einigen FDP-Politikern wie Alexander von Stahl, Heiner E. Kappel und Hans-Manfred Roth sowie dem einstigen bayerischen FDP-Vorsitzenden und damaligen Chef des Bundes Freier Bürger, Manfred Brunner. Auch eine ganze Reihe anderer Persönlichkeiten, etwa Professoren wie der bekannte Soziologe Erwin Scheuch oder General a.D. Günter Kießling unterschrieben.
Der Aufruf geriet umgehend zum Politikum. Der Sprecher der Bundesregierung, Peter Hausmann, äußerte ausdrücklich Verständnis für den Aufruf. An den 8. Mai, so der Regierungssprecher, knüpften sich viele Gefühle. Er sei ein Tag der Befreiung, aber auch der Trauer um die Opfer des Holocausts und auf den Schlachtfeldern. Für viele Menschen verbinde sich mit diesem Tag zudem die Erinnerung an den Beginn der Vertreibung. „Es gibt nicht nur ein Gefühl, das an diesem Tag herrscht“, sagte der Regierungssprecher.
Ähnlich differenziert äußerte sich Karl Lehmann, der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz. Für ihn sei der 8. Mai zwar ein Tag der Befreiung, aber es sei ungerecht, so der Bischof, wenn nicht der vielen Millionen Vertriebener gedacht würde. „Wenn man darüber spricht, muss man ja noch nicht ein Rechter sein.“
Dagegen wandte sich der Vorsitzende des Zentralrats der Juden, Ignatz Bubis, mit scharfen Worten gegen den Aufruf. Die SPD-Sprecherin Dagmar Wiebusch forderte, dass sich alle Unterstützer des Aufrufs aus demokratischen Parteien nachträglich distanzieren sollten. Der Grünen-Vorstandssprecher Jürgen Trittin warf der Union und der FDP vor, „ihren rechten Rand nicht mehr unter Kontrolle zu haben“. Mit dem Aufruf werde der einzigartige Charakter des NS-Regimes verdrängt.
Die öffentliche Erregung über den Aufruf war groß, wobei die Medien gespalten waren. Eckhard Fuhr verteidigte uns gegen die Kritik in einem Leitartikel der FAZ: „Es hat jetzt also, so will es die moralisierende Klasse in diesem Lande, der 8. Mai als Tag der Befreiung zu gelten. Und wehe dem, der das nicht in der gebotenen Plattheit täglich wiederholt.“ In einem weiteren Artikel schrieb Fuhr: „Zitelmanns Unterschriftenaktion ist eben nicht nur das Erinnern an Selbstverständlichkeiten, sondern eine kühl berechnete politische Aktion. Die politisch-kulturell vorherrschende Linke sollte in ihrer pawlowschen Berechenbarkeit und Dürftigkeit vorgeführt werden. Das ist zu einem guten Teil gelungen.“ Auch ein anderer führender Redakteur der FAZ, der für die Innenpolitik Verantwortliche Friedrich Karl Fromme, stellte sich auf unsere Seite.
Dagegen beschimpfte Heribert Prantl in der „Süddeutschen Zeitung“ die Unterzeichner der Anzeige als „Relativierer“ und „heimlich über die deutsche Niederlage vom 8. Mai 1945 Trauernde“. Die „Zeit“ nannte den Text „widerlich“.
Der Publizist Ralph Giordano bezeichnete in der taz den Aufruf als Beleg für „das Krebsgeschwür eines demokratiefernen und durch und durch reaktionären Geschichtsrevisionismus auch noch im Deutschland des ausgehenden Jahrhunderts. Die Liste der Unterzeichner deutet auf Metastasen in nachgewachsenen Generationen hin.“
Unterzeichner des Aufrufs wurden unter Druck gesetzt
Auf prominente Unterzeichner wurde massiver Druck ausgeübt, sie sollten ihre Unterschrift zurückziehen. Von den 300 Unterzeichnern tat dies jedoch nur einer, Hans Apel von der SPD. Der Ex-Verteidigungsminister erklärte mir und anderen gegenüber später mehrfach, er habe dies schon kurz darauf bereut. Ihm tat es sehr leid, dem Druck nicht standgehalten zu haben.
Die Kritiker setzten sich weniger mit dem Text des Aufrufes auseinander als mit der Liste der Unterzeichner. Unter ihnen war auch eine Handvoll Funktionäre der Partei „Republikaner“. Unterschreiben konnte jeder, und wir stellten keine Nachforschungen darüber an, wer sich hinter welchem Namen verbarg. Kein einziger Republikaner hatte seine Parteizugehörigkeit hinzugefügt.
In einer Sat-1-Fernsehdiskussion im April 1995 in der damals beliebten Sonntagabend-Talkshow „Talk im Turm“ (moderiert vom ehemaligen „Spiegel“-Chefredakteur Erich Böhme) wurde ich gefragt, ob es mir nicht zu denken gebe, dass auch Republikaner unterschrieben hätten. Ich entgegnete, ich könne doch nichts dafür, wenn ich sage, dass zwei und zwei vier ist, und mir dann jemand zustimme, dessen Meinungen ich ansonsten nicht teile. Jedenfalls dürfe das ja kein Grund sein, deshalb zu sagen zwei und zwei seien fünf. Ich fand die Aufregung über diese Unterzeichner auch deshalb nicht sehr überzeugend, weil diejenigen, die sich am lautesten darüber aufregten, nie etwas dabei gefunden hatten, wenn unter „Friedensaufrufen“ oder Initiativen gegen „Berufsverbote“ neben SPD-Leuten Vertreter der kommunistischen DKP unterzeichneten.
Die Fernsehdiskussion gab mir eine gute Gelegenheit, meine tatsächlichen Positionen darzustellen. Meine Kritiker waren überrascht, dass das Zerrbild, das sie von mir kannten, nicht bestätigt wurde. Im Berliner „Tagesspiegel“, der mir kritisch gegenüberstand, hieß es: „Zitelmann live ist die freundliche Sachlichkeit in Person, das genaue Gegenteil der schreibenden Kunstfigur gleichen Namens.“ Ich hätte in der Fernsehdebatte „gesiegt“, weil ich mich über nichts aufgeregt habe.
Wie Helmut Kohl und ich um Alfred Dregger kämpften
Wir hatten eine Gedenkveranstaltung in München für den 7. Mai 1995 geplant, zu der Alfred Dregger als Hauptvortragsredner zugesagt hatte. In den Wochen vor der Veranstaltung telefonierte ich immer wieder mit ihm, weil er massiv bedrängt wurde, seine Zusage zurückzuziehen. Dregger war angesichts des Drucks der Unionsführung sichtlich verunsichert, erklärte mir jedoch wiederholt, er „wackle“ nicht und stehe zu seiner gegebenen Zusage. Öffentlich erklärte er, wie die FAZ berichtete, es gehe den Kritikern des Aufrufs darum, „alles auf den Begriff der Befreiung von Hitler zu reduzieren und alles andere, was an Schrecklichem mit diesem Tag verbunden sei, zu leugnen“.
Aber in den Telefonaten mit mir räumte Dregger ein, dass Bundeskanzler Helmut Kohl ihn bedrängte, seine Zusage zurückzuziehen. Grund war weniger der Anzeigentext oder das Thema 8. Mai als der geplante Auftritt von Manfred Brunner bei der Podiumsdiskussion. Der war Kohl ein Dorn im Auge, weil Brunner ein vehementer Gegner des Euro war – jenes Projektes, das Kohl besonders am Herzen lag.
Unter diesem Druck begann Dregger zu wanken. Nach jedem Telefonat mit mir schien er wieder gefestigt in seiner Zusage. Aber wenn danach Kohl und der damalige CSU-Vorsitzende Theo Waigel auf ihn einredeten, war er wieder verunsichert. Ich merkte, dass es für ihn ein schwerer Kampf zwischen innerer Überzeugung und Parteiraison war. Schließlich stellte er die Bedingung, wir sollten Brunner wieder ausladen oder die gesamte Podiumsdiskussion absagen. Das lehnten wir ab.
Die Zeitung „Die Woche“ berichtete am 5. Mai: „Helmut Kohl, alarmiert vom öffentlichen Echo auf den rechten Aufruf, wollte nicht zulassen, dass am 8. und 9. Mai auch nur ein Schatten auf seine großen Auftritte in London, Paris, Berlin und Moskau fallen könnte … Er befahl seinem Parteifreund den geordneten Rückzug. Soldat Dregger gehorchte widerstrebend – und bekam dafür ein Lob: Inhaltlich, gestand Fraktionschef Schäuble ihm und der Parteirechten zu, gebe es gegen den Aufruf ‚gar nichts einzuwenden, das ist erlaubt und notwendig’.“ Im „Focus“ hieß es: „Gleich drei Spitzenpolitiker der Union setzten Dregger in Einzelgesprächen unter Druck“, nämlich Kohl, Waigel und Wolfgang Schäuble.
Am 28. April sagten wir schließlich die ganze Veranstaltung ab. Vorher hatte es zwischen Schwilk, Schacht und mir dazu Meinungsverschiedenheiten gegeben. Ich war gemeinsam mit Peter Gauweiler der Meinung, es bestehe die Gefahr, dass rechtsradikale Trittbrettfahrer aufspringen und medienwirksam an der Veranstaltung teilnehmen würden, ohne dass wir dies verhindern könnten. Das Signal, das davon ausginge, wäre fatal. Schacht und Schwilk sahen diese Gefahr auch, meinten jedoch, wir dürften all die, die uns unterstützt hatten, nicht enttäuschen und klein beigeben. Nach meiner Meinung hatten wir unser Ziel einer breiten Diskussion bereits erreicht, und das Risiko, all dies wieder durch die Veranstaltung zu gefährden, schien mir zu groß.
Wir gaben schließlich eine Presseerklärung heraus, in der wir schrieben: „Obwohl wir die Absage der Veranstaltung bedauern, ist doch ein wesentliches Ziel der Initiative erreicht, nämlich die Einheitssprachregelung von der ‚Befreiung’ zu durchbrechen. Neben den Schrecken der nationalsozialistischen Diktatur, an die die Erinnerung wach gehalten werden muss, wurden in den letzten Wochen in der öffentlichen Debatte auch die Vertreibungsverbrechen thematisiert.“
„Und was soll dieser jakobinische Eifer…?“
Es gab in der öffentlichen Diskussion in diesen Wochen nur wenige Zwischentöne. Eine Ausnahme war ein Kommentar von Ulrich Deupmann, einem späteren Redenschreiber des Bundesaußenministers (und heutigen Bundespräsidenten) Frank-Walter Steinmeier, im Feuilleton der „Süddeutschen Zeitung“. Der Tenor seines Kommentars war gerade deshalb bemerkenswert, weil Deupmann inhaltlich der Kritik an unserem Aufruf zustimmte. „Warum“, so fragte er jedoch, „ist die Provokation des Aufrufs ‚Gegen das Vergessen’ eigentlich so furchtbar? Sie hat letztlich etwas ganz erstaunliches ausgelöst: Die Deutschen diskutieren an Theken und Stammtischen, in Wohnzimmern und Vereinsheimen zur Zeit nicht nur über Fußball und die Verkehrsberuhigung der Goethestraße. Sie diskutieren die Frage, ob der 8. Mai 1945 … ein Tag der Befreiung war oder nicht. Lebendiger ist ein Gedenktag doch wohl selten begangen worden … Nun wird diskutiert, werden Argumente ausgetauscht, auf die Waage gelegt und für gut oder schlecht befunden: ein herrlich demokratischer Vorgang.“
Warum, so fragte der Kommentator der „Süddeutschen Zeitung“ weiter, fänden das denn ausgerechnet diejenigen so schlecht, die sich sonst oft als Wächter der demokratischen Grundrechte schätzen? „Und was soll dieser jakobinische Eifer, mit dem manche rufen: Wer den 8. Mai nicht als Tag der Befreiung begehen wolle, der sei nicht befreit und bereite den Boden für braunen Ungeist, aus dem einst alles wuchs?“
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