Gewalt ist der große Gleichmacher in der Geschichte

Erschienen am 12. Juni 2021

Die Geschichte zeigt: Wenn die Gleichheit stark zugenommen hast, dann meist durch Gewalt. Wenn der Wohlstand für viele Menschen stark zugenommen hat, dann durch den Kapitalismus.

Verfasser der klassischen utopischen Romane waren geradezu besessen von der Idee der Gleichheit. In fast allen utopischen Entwürfen ist das Privateigentum an Produktionsmitteln (und manchmal sogar jedes Privateigentum) abgeschafft und jede Differenzierung zwischen arm und reich aufgehoben. In dem 1643 erschienenen Roman des Philosophen Tommaso Campanella über den „Sonnenstaat“ trugen fast alle Männer und Frauen dieselbe Kleidung. Und für die Christianopolitaner in dem utopischen Entwurf von Johann Valentin Andreae sind lediglich zwei Arten von Kleidung vorgesehen. Selbst die Wohngebäude sehen in vielen utopischen Romanen einheitlich aus. Kaum jemand, der „soziale Ungerechtigkeit“ beklagt, würde heute einer so radikalen Gleichmacherei das Wort reden. Fast jedermann akzeptiert, dass es Unterschiede im Einkommen geben solle, aber – so fügen viele hinzu: Diese Unterschiede sollten nicht „zu groß“ sein. Was jedoch ist „zu groß“ und was ist in Ordnung?

Der Preis der Gleichheit

Eine andere Frage, die zu selten gestellt wird, lautet: Was ist der Preis dafür, Ungleichheit zu beseitigen? Der renommierte Stanford-Historiker und Altertumswissenschaftler Walter Scheidel hat dazu 2018 eine beeindruckende historische Analyse vorgelegt: „Nach dem Krieg sind alle gleich. Eine Geschichte der Ungleichheit“. Er kommt zu dem Ergebnis, dass in Gesellschaften, die von großen gewaltsamen Erschütterungen und deren Auswirkungen verschont wurden, nie eine wesentliche Verringerung der Ungleichheit beobachtet werden konnte.

Die Gleichheit in Gesellschaften sei stets nur als Ergebnis von Katastrophen gestiegen, und zwar vor allem von:

  • Krieg
  • Revolution
  • Staatsversagen und Systemkollaps
  • Seuchen.

Der größte Gleichmacher im 20. Jahrhundert waren nicht etwa soziale Reformen, sondern die beiden Weltkriege sowie die kommunistischen Revolutionen, wie Scheidel zeigt. Sowohl in den beiden Weltkriegen als auch bei den kommunistischen Gesellschaftsexperimenten kamen jeweils über 100 Millionen Menschen um.

Weltkriege als Gleichmacher

Scheidels Befund soll hier am Beispiel des Zweiten Weltkrieges veranschaulicht werden. Beispiel Japan: Dort flossen dem reichsten Prozent der Bevölkerung im Jahr 1938 19,9 Prozent des deklarierten Einkommens vor Steuern und Transfers zu. Doch in den folgenden sieben Jahren schrumpfte der Einkommensanteil dieser Gruppe um zwei Drittel auf 6,4 Prozent zusammen. Mehr als die Hälfte dieses Verlusts entfiel auf das reichste Zehntel dieser Spitzengruppe, dessen Anteil von 9,2 auf 1,9 Prozent abstürzte, also um fast vier Fünftel schrumpfte. Der reale Wert der deklarierten Vermögen des reichsten Prozents der Japaner schrumpfte zwischen 1936 und 1945 um 90 Prozent und im Zeitraum 1936 bis 1949 um fast 97 Prozent. Das reichste Promille büßte in diesem Zeitraum sogar noch mehr ein, nämlich 93 bzw. 98 Prozent. Das japanische Wirtschaftssystem wurde in dieser Zeit Schritt für Schritt faktisch in eine Planwirtschaft verwandelt, nur die Fassade einer kapitalistischen Marktwirtschaft wurde aufrechterhalten. Managerboni wurden begrenzt, es wurde eine strikte Miepreisregulierung eingeführt und zwischen 1935 und 1943 verdoppelte sich der Spitzensteuersatz auf Einkommen in Japan.

Auch in anderen Ländern fand im Krieg eine deutliche Nivellierung statt. Nach Scheidels Analyse zählten die zwei Weltkriege zu den größten Gleichmachern der Geschichte. Der durchschnittliche prozentuale Rückgang der Einkommensanteile der Reichsten in den aktiv am Zweiten Weltkrieg beteiligten Ländern betrug 31 Prozent gegenüber dem Vorkriegsniveau. Dies ist ein belastbares Ergebnis, denn die Probe beinhaltet ein Dutzend Länder. Die einzigen zwei Länder, in denen die Ungleichheit in diesem Zeitraum zunahm, waren zugleich diejenigen, die am weitesten von den Kriegsschauplätzen entfernt waren (Argentinien und Südafrika).

Die Entwertung von Vermögen, physische Zerstörung und der Verlust von Auslandsvermögen, Inflation und progressive Besteuerung, Mietpreisbindung und Preiskontrollen sowie Verstaatlichung trugen in unterschiedlichem Maß zur Egalisierung bei. Das Vermögen der Reichen wurde in den beiden Weltkriegen dramatisch reduziert, und zwar gleichgültig, ob die Länder verloren oder siegten, im oder nach dem Krieg unter einer Besetzung litten, Demokratien oder Diktaturen waren.

Die ökonomischen Folgen der beiden Weltkriege waren also für die Reichen verheerend – und auch dies spricht gegen die These, Kapitalisten hätten die Kriege aus wirtschaftlichen Interessen angezettelt. Entgegen der populären Wahrnehmung, wonach die einfachen Schichten im Krieg am meisten litten, so waren ökonomisch gesehen jedenfalls die Kapitalisten die großen Verlierer der beiden Weltkriege.

Übrigens kommt der linke Ökonom Thomas Piketty zu einem ähnliches Befund. Er vertritt in seinem Buch „Kapital im 21. Jahrhundert“ die These, dass die progressive Steuer im 20. Jahrhundert vor allem ein Produkt der beiden Weltkrieges und nicht eines der Demokratie gewesen sei.

Armut wird friedlich beseitigt

Der Preis der Verringerung der Ungleichheit waren also meist Katastrophen, deren Opfer nicht nur die Reichen waren, sondern Abermillionen Menschen. Weder gewaltlose Landreformen noch Wirtschaftskrisen oder die Demokratisierung hatten in der Geschichte eine so große egalisierende Wirkung gehabt wie diese gewaltsamen Umbrüche. Wenn es das Ziel sei, Einkommen und Vermögen gleichmäßiger zu verteilen, meint der Historiker Scheidel, dann können wir einfach nicht die Augen davor verschließen, welche traumatischen Ereignisse in der Vergangenheit erforderlich waren, um dieses Ziel zu erreichen. Wir müssen uns fragen, ob es der Menschheit im Lauf der Geschichte jemals gelungen ist, große Ungleichheit ohne beträchtliche Gewalt zu verringern. Scheidel verneint diese Frage. Das mag für viele Anhänger egalitärer Vorstellungen ein deprimierender Befund sein. Wenn wir jedoch die Perspektive verschieben, und nicht fragen: „Wie wird die Ungleichheit verringert?“, sondern „Wie wird Armut verringert?“ dann können wir eine optimistische Antwort geben: Nicht gewaltsame Ausbrüche, wie jene, die zur Verringerung von Ungleichheit führten, sondern sehr friedliche Mechanismen, nämlich Innovationen und Wachstum, die durch die Kräfte des Kapitalismus bewirkt wurden, haben zur Verringerung der Armut geführt.

Oder, um es anders auszudrücken: Die größten „Gleichmacher“ in der Geschichte waren gewaltsame Ereignisse wie Kriege, Revolutionen, Staatszusammenbrüche und Pandemien, aber der größte Armutsverminderer in der Geschichte war der Kapitalismus. Bevor der Kapitalismus entstand, lebten die meisten Menschen auf der Welt in extremer Armut – 1820 betrug die Quote noch 90 Prozent. Heute ist sie auf zehn Prozent gesunken.

Das Bemerkenswerte: In den letzten Jahrzehnten, seit dem Ende Kommunismus in China und anderen Ländern hat sich der Rückgang der Armut so stark beschleunigt wie in keiner Phase der Menschheitsgeschichte zuvor. 1981 lag die Quote noch bei 42,7 Prozent, im Jahr 2000 war sie bereits auf 27,8 Prozent gesunken und 2021 lag sie bei nur noch 9,3 Prozent.

Rainer Zitelmann ist Autor des Buches „Kapitalismus ist nicht das Problem, sondern die Lösung.“

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