Ist der Kapitalismus verantwortlich für Hunger und Armut?

Erschienen am 22. Mai 2021

Bevor der Kapitalismus entstand lebten die meisten Menschen auf der Welt in extremer Armut – 1820 betrug die Quote noch 90 Prozent. Heute ist sie auf zehn Prozent gesunken.

Das Bemerkenswerte: In den letzten Jahrzehnten, seit dem Ende Kommunismus in China und anderen Ländern hat sich der Rückgang der Armut so stark beschleunigt wie in keiner Phase der Menschheitsgeschichte zuvor.

Viele Menschen, die glauben, der Kapitalismus habe zu Hunger und Armut in der Welt geführt, stellen sich die vorkapitalistische Zeit völlig unrealistisch vor. Johan Norberg, der Verfasser des Buches „Fortschritt“ war in seiner Jugend selbst ein Antikapitalist. Er räumt jedoch ein, er habe nie darüber nachgedacht, wie die Leute wohl vor der industriellen Revolution gelebt hätten. Er habe sich diese Epoche der Menschheit im Grunde genommen vorgestellt wie einen Ausflug aufs Land. Sahra Wagenknecht schreibt in ihrem Buch „Die Selbstgerechten“, vor dem Kapitalismus hätten die Menschen zwar in „sicherlich entbehrungsreichen“ Verhältnissen gelebt, aber sie verklärt das „viel ruhigere, naturverbundene, in verlässliche Gemeinschaften integrierte Leben“, das im Vergleich zum Kapitalismus „geradezu eine Idylle“ gewesen sei.

Fernand Braudel, der berühmte französische Historiker hat ein Standardwerk über die Sozialgeschichte des 15. bis 18. Jahrhunderts geschrieben. Die Volksnahrung, so erfährt man da, bestand aus Brei, Suppe oder Brot aus minderen Mehlen, das nur in ein- bis zweimonatigem Abstand gebacken wurde und fast immer schimmelig und so hart war, dass es mancherorts mit der Axt zerteilt werden musste. Die meisten Menschen, auch in den Städten, mussten mit 2000 Kalorien am Tag zurecht kommen, wobei der Anteil der Kohlenhydrate weit über 60 Prozent der Gesamtkalorienmenge ausmachte. Oft war Essen gleichbedeutend mit dem lebenslangen Verzehr von Brot und nochmals Brot oder von Mus und Brei. Die Menschen damals waren mager und kleinwüchsig – die gesamte Geschichte hindurch hat sich der menschliche Körper an unzureichende Kalorienzufuhr angepasst.

Manche Menschen schwärmen von den harmonischen vorkapitalistischen Zuständen, in der alles so schon „entschleunigt“ war, aber diese Langsamkeit war meist ein Ergebnis physischer Schwäche infolge von dauerhafter Mangelernährung. Man schätzt, dass vor 200 Jahren ungefähr 20 Prozent der Einwohner von England und Frankreich gar nicht arbeitsfähig waren. Sie hatten höchstens genug Kraft, um jeden Tag ein paar Stunden langsam zu gehen, wodurch sie Zeit ihres Lebens zum Betteln verurteilt waren. Der „Besitz“ der Menschen beschränkte sich auf einige wenige Dinge, so wie man sie auf zeitgenössischen Bildern sieht: ein paar Hocker, eine Bank und als Tisch ein Fass. All diese Schilderungen beziehen sich wohlgemerkt auf Westeuropa, also jene Länder, in denen es damals den Menschen noch am besten ging.

Ich habe das hier so ausführlich beschrieben, um zu zeigen, was konkret damit gemeint ist, wenn es heißt, dass damals 85 Prozent der Weltbevölkerung in extremer Armut lebten. Denn in anderen Erdteilen war es noch viel schlimmer als in Westeuropa. Der britische Ökonom Angus Maddison hat sich auf die Berechnung von historischen Wirtschaftsdaten spezialisiert. In komplizierten Verfahren hat er das Bruttosozialprodukt pro Kopf der Bevölkerung geschätzt. Im Jahre 1820 betrug dies in Westeuropa, von dem bisher die Rede war, 1.202 Internationale Dollar (eine Maßeinheit, die auf dem Jahr 1990 beruht). Ähnlich hoch war es in anderen westlichen Ländern, also Nordamerika, Australien und Neuseeland. Im Rest der Welt betrug das Bruttosozialprodukt pro Kopf jedoch zum gleichen Zeitpunkt nur 580 Internationale Dollar, also etwa die Hälfte.

Was der Kapitalismus bewirkt hat, sieht man im längeren historischen Vergleich. Im Jahr 1 unserer Zeitrechnung betrug das Bruttosozialprodukt pro Einwohner in Westeuropa 576 Internationale Dollar, in der ganzen Welt waren es 467. Das heißt: In Europa hatte es sich in der vorkapitalistischen Zeit, vom Jahr 1 bis zum Jahr 1820, gerade mal verdoppelt. Und in der kurzen Zeit von 1820 bis 2003 stieg es dann in Westeuropa von 1.202 auf 19.912 Internationale Dollar und in den anderen kapitalistischen Ländern des Westens sogar auf 23.710 internationale Dollar.

Doch nicht überall verlief diese Entwicklung so. In Asien etwa stieg das Bruttosozialprodukt pro Einwohner in den 153 Jahren von 1820 bis 1973 nur von 691 auf 1.718 Dollar. Und dann, in nur 30 Jahren, stieg es von 1.718 auf 4.344 Internationale Dollar im Jahr 2003.

Was war geschehen? Diese Entwicklung in Asien ist vor allem darauf zurückzuführen, dass nach dem Tode Mao Zedongs im Jahr 1976 Stück für Stück der Kapitalismus in China eingeführt wurde. Noch im Jahr 1981 betrug die Zahl der Chinesen, die in extremer Armut lebten, 88 Prozent, heute sind es weniger als ein Prozent. Niemals in der Weltgeschichte stiegen in so kurzer Zeit so viele Hunderte Millionen Menschen aus bitterer Armut in die Mittelschicht auf.

Der Kapitalismus hat mehr zur Überwindung von Hunger und Armut beigetragen als jedes andere System in der Weltgeschichte. Die größten von Menschen gemachten Hungerskatastrophen ereigneten sich in den vergangenen 100 Jahren im Sozialismus – allein in den 1930er-Jahren starben in der Sowjetunion nach verschiedenen Schätzungen fünf bis neun Millionen Menschen bei Hungersnöten, die durch die sozialistische Kollektivierung der Landwirtschaft ausgelöst wurden.

Das Ende des Kommunismus in China und der Sowjetunion war ein Faktor, der dazu beitrug, dass der Hunger von 1990 bis 2017 um 42 Prozent zurückging.

In Nordkorea freilich, einem der wenigen verbliebenen sozialistischen Länder, starben noch in den Jahren 1994 bis 1998 mehrere Hunderttausend Menschen bei Hungersnöten.

Der „Index of Economic Freedom“, den die Heritage Foundation erstellt, zeigt, dass die am meisten kapitalistischen Länder im Durchschnitt ein Bruttosozialprodukt pro Kopf von 71.576 Dollar haben. Bei den überwiegend freien Ländern sind es noch 47.706 Dollar. Am anderen Ende sind die überwiegend unfreien und die unfreien Länder, wo das Bruttosozialprodukt pro Kopf nur 6.834 oder 7.163 Dollar beträgt.

Rainer Zitelmann ist Verfasser des Buches „Kapitalismus ist nicht das Problem, sondern die Lösung“.

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