Oft werde ich in Interviews gefragt: Wie sieht aus Ihrer Sicht die „ideale“ kapitalistische Gesellschaft aus? Ich denke, wir brauchen mehr Kapitalismus, aber keine Utopie einer „perfekten“ kapitalistischen Gesellschaft.
Die Zeit der Reformen: 1980 bis 2000
In allen Ländern mischt sich der Staat heute zu stark in die Wirtschaft ein. Vom Beginn der 80er-Jahre bis zu Beginn des neuen Jahrtausends konnte man in vielen Ländern der Welt beobachten, wie der Staat zurückgedrängt und den Kräften des Marktes mehr Raum gegeben wurde:
- In China begann Deng Xiaoping mit marktwirtschaftlichen Reformen und führte das Privateigentum ein. Ergebnis: Die Zahl der extrem armen Chinesen sank von 88 Prozent (1981) auf unter ein Prozent (heute).
- In Großbritannien, das in den 70er-Jahren der „kranke Mann“ Europas genannt wurde, setzte Margaret Thatcher ab 1979 auf Privatisierung und Steuersenkung. Es entstanden zahlreiche neue Unternehmen und Arbeitsplätze und Großbritannien ging es danach besser.
- In den USA führte Ronald Reagan von 1981 bis 1989 marktwirtschaftliche Reformen durch, die Arbeitslosigkeit und die Inflation sanken und die wirtschaftliche Situation der Amerikaner verbesserte sich.
- In Schweden wurden in den 90er-Jahren die Steuern gesenkt und der Arbeitsmarkt dereguliert, Auswüchse des sozialistischen Wohlfahrtsstaates wurden beseitigt. Das war der Beginn eines wirtschaftlichen Aufschwungs.
- In Deutschland führte Gerhard Schröder Anfang der 2000er-Jahre mit seiner „Agenda 2010“ marktwirtschaftliche Reformen durch, senkte die Steuern und deregulierte den Arbeitsmarkt. Die Arbeitslosigkeit wurde dadurch halbiert und die Grundlage für einen lang anhaltenden Wirtschaftsaufschwung gelegt.
Der Staat schlägt zurück
Heute ist die Situation weltweit anders. In China sind jene Kräfte stärker geworden, die die Rolle des Staats mehr betonen. In den USA regiert Donald Trump, der zwar die Steuern gesenkt und in einigen Bereichen dereguliert hat, was positiv ist, zugleich jedoch eine protektionistische Politik betreibt, die die Erfolge der Globalisierung gefährdet. In Deutschland wurden seit Gerhard Schröder keine marktwirtschaftlichen Reformen mehr durchgeführt, im Gegenteil. Einige seiner Reformen wurden zurückgenommen, und viele Wirtschaftsbereiche – vor allem die Energieindustrie, die Wohnungswirtschaft und die Automobilwirtschaft – werden Jahr für Jahr mit immer schärferen staatlichen Interventionen und Regulierungen überzogen. In Frankreich hat Emmanuel Macron wichtige Reformen, zum Beispiel des Arbeitsmarktes, angekündigt, trifft jedoch auf den massiven Widerstand der Gewerkschaften und kann sich nicht gegen den herrschenden Etatismus durchsetzen.
Eine kapitalistische Utopie?
Es gibt in allen Ländern libertäre Bewegungen, die einen Gegenentwurf zur herrschenden Staatsgläubigkeit darstellen. Leider sind sie überall sehr schwach. Das hat auch damit etwas zu tun, dass viele ihrer Anhänger zu abstrakt und theoretisch argumentieren, was für breite Bevölkerungsschichten schwer verständlich ist. Manche träumen von einer libertären Utopie ohne Staat, von einer rein kapitalistischen Gesellschaft, in der der Markt alles bestimmt.
Ich bin skeptisch gegen jede Art von Utopien, gegen alle Entwürfe einer „perfekten“ Gesellschaft.
Kapitalismus ist, anders als der Sozialismus, kein von Intellektuellen erdachtes System, sondern eine Wirtschaftsordnung, die sich evolutionär entwickelt hat, so wie sich Tiere und Pflanzen in der Natur entwickelt haben und weiterentwickeln, ohne dass es dafür eines zentralen, lenkenden Planes oder einer Theorie bedürfte. Eine der wichtigsten Erkenntnisse, die der Ökonom und Philosoph Friedrich August von Hayek hervorgehoben hat, lautet, der Ursprung von funktionierenden Institutionen liege „nicht in Erfindung oder Planung, sondern im Überleben der Erfolgreichen“, wobei „die Auswahl durch Nachahmung der erfolgreichen Institutionen und Bräuche“ erfolge.
Mein zentrales Argument gegen Sozialisten lautet: Wo hat eure sozialistische Utopie jemals existiert – in der realen Welt, nicht in Büchern? Sozialisten können kein einziges Beispiel eines real existierenden, funktionierenden Sozialismus nennen. Ich stelle Anhängern libertärer Utopien die gleiche Frage: In welcher großen Gesellschaft hat es je einen „reinen“ Kapitalismus gegeben, wo und wann wurde die libertäre Utopie verwirklicht?
Mein Einwand gegen Sozialisten: Im Kopf kann man sich alles ausdenken. Und wenn man Konstrukte einer „perfekten“ und „idealen“ Gesellschaft mit der Realität vergleicht, muss die Realität immer schlecht abschneiden. Das ist genauso fair, wie wenn jemand Ihre Ehe mit der Schilderung der perfekten Liebesromanze in einem kitschigen Liebesroman vergleichen würde. Dieses Argument gegen die Sozialisten wird jedoch unbrauchbar, wenn man der sozialistischen eine kapitalistische oder libertäre Utopie entgegensetzt.
Dagegen spricht auch: Die Geschichte lehrt, dass immer dann, wenn Menschen versucht haben, eine „perfekte“ Gesellschaft zu entwerfen das Gegenteil herauskam. Die Hoffnung auf eine perfekte Welt sollte man den Religionen überlassen. „Politische Religionen“, egal welcher Art, erfüllen offenbar ein utopisches Bedürfnis der Menschen. In einer säkularisieren Welt treten solche Ideologien an die Stelle von Religionen.
Das Glück der Menschen wurde niemals durch radikale Utopisten gemehrt, oft jedoch durch radikale Reformer – durch Menschen wie Deng Xiaoping, Ronald Reagan oder Margaret Thatcher. Sie haben nicht versucht, eine perfekte Gesellschaft zu entwerfen, sondern sie haben pragmatisch gehandelt und den Staat dort zurückgedrängt, wo er zu stark war. „Mehr Kapitalismus wagen“ muss heute das Ziel sein – und zwar: viel mehr Kapitalismus wagen. Die „reine“ kapitalistische Gesellschaft oder die radikal-libertäre Vision einer Gesellschaft ohne Staat hat es nirgendwo gegeben – und es wird sie auch nicht geben.