Carl Tillessen, Konsum. Warum wir kaufen, was wir nicht brauchen, Harper Collins, Hamburg 2021.
Konsumkritik ist „in“. Fridays-for-Future-Kids haben ein schlechtes Gewissen, wenn sie konsumieren, aber sie konsumieren wie die Weltmeister. Grüne predigen Enthaltsamkeit, aber fliegen mehr als andere. Immerhin tun sie das dann mit einem schlechten Gewissen, so wie der Autor dieses Buches, der gleich im Vorwort reuig bekennt, dass auch er sinnlos konsumiert, aber uns immerhin für die Zukunft verspricht: „Und ich möchte mich wenigstens bemühen, den Schaden zu begrenzen, den mein Konsumverhalten anrichtet, statt durch gedankenlosen Konsum permanent vollkommen unnötigen Schaden anzurichten“ (S. 12).
Ich kenne die Kritik am „Konsumterror“ noch aus den 70er-Jahren, sie war ein zentrales Thema der 68er-Bewegung. Aber ich wollte wissen, wie Konsumkritik heute begründet wird und habe daher einen SPIEGEL-Bestseller zu diesem Thema gekauft (ja, gekauft, ohne schlechtes Gewissen): „Warum wir kaufen, was wir nicht brauchen“. Ich gebe zu: Schon beim Lesen des Buchtitels war ich skeptisch: Wer ist „wir“? Und wer entscheidet, welche Konsumgüter wir „brauchen“ und welche wir nicht brauchen?
Das finstere Zeitalter der Globalisierung
Beim Lesen des Buches hat man den Eindruck: Früher war alles besser. Globalisierung und Digitalisierung haben vor allem Negatives bewirkt. Früher, „als noch alles im Inland hergestellt wurde“, sei das Preisgefüge „einigermaßen stimmig“ gewesen. „Doch die Globalisierung der Herstellung vieler alltäglicher Konsumgüter hat unsere Warenwelt auf den Kopf gestellt… Heute kann es sein, dass ein Kurzarmshirt das Zwanzigfache eines Langarmshirts kostet, weil das Kurzarmshirt aus der Schweiz kommt und das Langarmshirt aus China… Das fühlt sich nicht nur falsch an, das ist falsch.“ (S. 43) Falsch sei das, denn „für die Menschen, die uns geografisch nicht so nahe stehen“ sei „mit der Globalisierung ein ganz düsteres Zeitalter angebrochen“ (S.30). Ein Zeitalter, das von finsterer Ausbeutung bestimmt sei.
Nun, da der Autor China anführt: Ist für die Chinesen mit der Globalisierung wirklich ein düsteres Zeitalter angebrochen? 1981 lebten noch 88 Prozent der Chinesen in extremer Armut. Durch die kapitalistische Globalisierung ist dieser Prozentsatz auf heute unter 1% gesunken. „Düsteres Zeitalter“?
Wie sahen die guten, alten Zeiten aus? Da war angeblich der Konsum rational, heute ist er irrational. Beleg: „Als unser Konsum noch rational war, konnte man sich darauf verlassen, dass die Unterschicht im unteren Preissegment einkaufte, die Mittelschicht im mittleren und die Oberschicht im oberen. Der Homo oeconomicus früherer Jahrhunderte war vernünftig und hat seinen Konsum immer automatisch seinem Vermögen angepasst.“ (S. 56) Man könnte es auch anders sagen: In früheren Jahrhunderten war die Mehrheit der Menschen überall auf der Welt bettelarm und konnte sich daher nichts leisten, außer das, was man unbedingt zum Leben brauchte. Waren das die guten, alten Zeiten? Heute ist alles schlecht geworden. Beleg: „Und wenn man sich eine Louis-Vuitton-Tasche eigentlich gar nicht leisten kann, dann kauft man sich stattdessen trotzdem nicht eine günstigere Tasche, sondern spart so lange, bis man sich die Louis-Vuitton Tasche mit dem Mongrammdruck leisten kann.“ (S.57) Was ist schlecht daran, wenn sich einfache Menschen heute mehr leisten können als früher? Und wer entscheidet, ob sie das „brauchen“ oder nicht?
Wer falsch einkauft, dient der Sklaverei
„Lustkäufe“ sind aus Sicht des Autor irrational – was implizit bedeutet, dass rational nur derjenige einkauft, der gerade einmal die notwendigen physischen Bedürfnisse damit befriedigt: „Ohne finanzielle Reue können wir jetzt regelmäßig reine Lustkäufe tätigen. Wenn wir eine Sache kaufen, müssen wir nicht mehr auf eine andere Sache verzichten. Dadurch wird unser Konsum von Tag zu Tag weniger rational. Noch nie in der Geschichte der Menschheit hatte der Erwerb von Dingen so wenig mit der Deckung eines greifbaren Bedarfs zu tun.“ (S. 40). Wenige Zeilen später verrät der Autor, was er für „entbehrlich“ hält, z.B. Parfums.
Eigentlich sollten wir bei fast allen Käufen ein schlechtes Gewissen haben, auf jeden Fall bei über 90 Prozent unserer Käufe, denn „über 90 Prozent der Produkte, die wir kaufen, werden unter unfairen Bedingungen hergestellt“ (S.25). Wer etwa ein billiges T-Shirt kauft, der könnte sich den Kaufbeleg auch gleich „rahmen lassen und an die Wand hängen, denn er macht uns zu einem zertifizierten Unterstützer moderner Sklaverei“ (S. 34). Günstig zu kaufen ist also die größtmögliche Sünde. Wer dagegen ein 299-Euro-T-Shirt von Gucci kaufe, in dem „Made in Italy“ stehe, habe bereits eine deutlich höhere Wahrscheinlichkeit, dass es unter „fairen Bedingungen“ hergestellt sei, aber Gewissheit könne auch er nicht haben (S.34). Beim Kauf einer Luxusmarke habe man zwar die „moderne Sklaverei… nicht mit Sicherheit verhindert, wir haben sie aber wenigstens nicht wissentlich unterstützt und gefördert“ (S.36). Übrigens: Auf der Buchklappe erfährt man, dass der Autor sein Geld als Berater von Luxusmarken verdient. Vielleicht verkauft er sich mit der eben zitierten Argumentationskette, wonach es schlimmer sei, günstig zu kaufen als eine Luxusmarke zu kaufen, die Art, wie er sein Geld verdient. Man nennt das in der Psychologie Vermeidung kognitiver Dissonanz.
So werden aus guten schlechte Nachrichten
Der Autor beklagt, durch die Globalisierung sei der Konsum erheblich gestiegen: So habe sich der Konsum an Kleidung seit 1960 verneunfacht. Seit 1980 versechsfacht. Allein zwischen 2000 und 2015 habe sich die verkaufte Menge noch einmal verdoppelt (S.39). Das ist eigentlich eine gute Nachricht: Menschen (z.B. in China), die sich vor 50 Jahren nur billigste Einheitskleidung leisten konnten, können sich heute gute und vielfältige Kleidung leisten. Den Autor des Buches erfüllt diese erfreuliche Entwicklung jedoch mit großer Sorge. Anfang der 1970er-Jahre war Kleidung noch so teuer, dass man 10 Prozent seines verfügbaren Einkommens aufwenden musste, um sich einigermaßen vernünftig einzukleiden. (S. 46) Doch Dank der Verlagerung der Produktion in Billiglohnländer könnten wir uns heute von weniger als fünf Prozent unseres verfügbaren Einkommens, also mit weniger als der Hälfte des Aufwands, die fünffache Menge Kleidung leisten (S.47). Ich lese die Zahlen so: Was den Konsum angeht, so sind wir fast alle Globalisierungsgewinner, denn heute bekommen wir für unser Geld viel mehr als früher.
Aus der Perspektive des Autors ist das indes eine verhängnisvolle Entwicklung: Die Menschen in den reichen Ländern kaufen, was sie eigentlich nicht brauchen – auf Kosten der Umwelt und auf Kosten der Menschen in den armen Ländern. Er wiederholt in seinem Buch die alten Plattitüden wie etwa: „Die Reichen werden immer reicher und die Armen immer ärmer“ (S. 56). Dabei ist das längst widerlegt und kann nur behauptet werden von jemandem, der alle Statistiken konsequent ignoriert: In den letzten Jahrzehnten, seit dem Ende Kommunismus in China und anderen Ländern hat sich der Rückgang der Armut so stark beschleunigt wie in keiner Phase der Menschheitsgeschichte zuvor. 1981 lag die Quote der Menschen, die weltweit in extremer Armut leben, noch bei 42,7 Prozent, im Jahr 2000 war sie bereits auf 27,8 Prozent gesunken und 2021 lag sie bei nur noch 9,3 Prozent. Diese Zahlen findet man in dem Buch nicht.
Wir sind alle krank
Warum, so fragt man sich, kaufen die Menschen trotzdem täglich so viele Dinge, die sie nach Ansicht des Autors alle nicht brauchen? Die einfache Erklärung: Weil sie krank sind, und zwar so krank, dass man sie eigentlich therapieren müsste. Er spricht von Kaufsucht, die es zweifelsohne gibt, aber für ihn sind wir alle kaufsüchtig. Er führt extreme Beispiele an wie z.B. jemanden, der süchtig nach Klassik-CDs war und am Schluss 8000 Dollar täglich für Klassik-CDs ausgab (S.61). Wir sind süchtig, denn wir kaufen „immer öfter Dinge, die wir nicht im Geringsten brauchen, obwohl uns die ökonomische Sinnlosigkeit und die ökologische Schädlichkeit unseres Verhaltens immer klarer werden. Wenn wir ehrlich zu uns selbst wären, müssten wir uns unsere wachsende seelische und körperliche Abhängigkeit von regelmäßigen Lustkäufen eingestehen. Ohne uns dessen bewusst zu sein, sind wir alle schon seit Jahren süchtig nach Konsum.“ (S. 61) Manche Dinge, die man kauft, packe man zu Hause nicht einmal mehr aus oder nehme sich nicht die Zeit, die Gebrauchsanweisung zu lesen, sodass die Dinge nach dem Kauf gar nicht mehr benutzt würden (S.65). Man sieht: Aus Extremerscheinungen macht der Autor ein Massenphänomen, das angeblich „uns alle“ betrifft.
Selbst wenn man die „richtigen Dinge“ kauft, dann genügt das aus seiner Sicht nicht. Man muss sie auch aus den „richtigen“ Gründen kaufen. Denn: „Wenn jemand vor allem deshalb lieber zu Bioobst und Biogemüse greift, weil er glaubt, dass sie für ihn gesünder sind, dann ist das kein ethischer Konsum. Und wenn jemand Biobrot und Bioeier kauft, weil sie ihm besser schmecken, dann hat das mit Moral nichts zu tun.“ (S. 70) Fazit: 99,9 Prozent der Konsumentscheidungen erfolgen weitgehend unabhängig von moralischen Überlegungen.
Und wer steckt hinter allem? Die große Verschwörung der Amazons & Co, die von der Weltherrschaft träumen: „Heute sind es die E-Tailer (Retailer + E-Commerce = E-Tailer), die, wie James-Bond-Bösewichte, davon träumen, den stationären Handel restlos vom Antlitz der Erde zu tilgen und die Weltherrschaft an sich zu reißen.“ (S.86).
Ideal: Der Konsument mit dem permanent schlechten Gewissen
Das Buch endet aber versöhnlich. Der Autor weiß, dass kaum jemand so leben kann und will, wie man es tun müsste, wenn man konsequent der Logik seiner Argumentation folgte. „Aber wenn wir das alles beachten würden, wäre unser Leben nur noch Wurzelgemüse, Sauerkraut und verschrumpelte Äpfel und ungewaschene, ungebügelte Second-Hand-Kleidung. Die Vielzahl und Strenge der Auflagen lässt uns ein radikal nachhaltiges Leben als etwas erscheinen, das wir weder erreichen können noch erreichen wollen. Der Anspruch, nur und ausschließlich nachhaltig zu leben und Fair Trade zu kaufen, würde uns genauso um Jahrzehnte im Fortschritt der Menschheit zurückwerfen wie der Anspruch, weder direkt noch indirekt ein Produkt von Google zu nutzen. Und am Ende stünde die empfundene Größe der persönlichen Opfer, die man dabei erbringen müsste, in einem absurden Missverhältnis zu der empfundenen Winzigkeit des Beitrags, den man damit zur Verbesserung der Welt leisten könnte. Also brechen die meisten den Versuch, nachhaltiger zu leben, einfach ab und machen so weiter wie bisher. Leider.“ (S. 186) Der Autor weiß also, dass man das, was er beklagt, im eigenen Leben nicht konsequent ändern kann. Man könne aber immerhin etwas tun, zum Beispiel von April bis September mit dem Fahrrad zur Arbeit fahren oder im Inland nur noch per Bahn und nicht mehr per Flugzeug reisen (S. 187). Wir sollten ständig unseren CO2-Fußabdruck messen, „auch wenn das nur einer von vielen Aspekten einer vollständigen Ökobilanz ist und die Frage nach der Sozialverträglichkeit unseres Konsums dabei komplett außer Acht gelassen wird“ (S. 183).
Die Vorschläge des Autors laufen also darauf hinaus, symbolisch „etwas“ zu tun – mit dem permanenten schlechten Gewissen, dass es eigentlich viel zu wenig ist, weil wir eigentlich doch die Umwelt zerstören, den Klimawandel befördern, unsinnige Produkte konsumieren und vor allem für die Ausbeutung und Sklaverei der Menschen in Asien, Afrika oder Osteuropa verantwortlich sind. Sie erinnern sich: Selbst wenn wir aus den falschen Gründen das richtige kaufen, zählt das nicht. Es bleibt also immer ein schlechtes Gewissen.
Sind Menschen mit permanent schlechtem Gewissen glücklicher? Sind es selbstbewusste Bürger? Oder sind sie Manipulationsmasse von Politikern, die das schlechte Gewissen zum Teil ihrer Parteistrategie gemacht haben und dem Bürger psychische Entlastung versprechen, wenn sie ihr Kreuz bei den Grünen machen?