Russland: Stalin lebt

Erschienen am 20. April 2019

Der kommunistische Diktator Josef Stalin (1879-1953) wird 66 Jahre nach seinem Tod einer Umfrage zufolge immer populärer in Russland.

70 Prozent der Russen sind der Ansicht, dass Stalin eine positive Rolle für ihr Land gespielt habe, wie das unabhängige Lewada-Zentrum in Moskau mitteilte. Dieser Wert ist der höchste in den vergangenen 20 Jahren. Jeder vierte Befragte bewundert den Diktator. Fünf Prozent haben Angst vor ihm. 2001 hatten sich noch 16 Prozent entsprechend geäußert.

Zum jährlichen Weltkriegsgedenken am 9. Mai, dem wichtigsten Nationalfeiertag, tragen Russen immer wieder Stalin-Porträts durch die Moskauer Straßen. Stalin sei vor allem bei Menschen beliebt, die auf der Suche seien, „stolz auf ihr Land zu sein, weil es in letzter Zeit an großen Leistungen gemangelt hat“, sagte der russische Historiker Iwan Kurilla. „Stalin ist eine Verkörperung einer heldenhaften Zeit der jüngeren Geschichte.“

Stalin-Denkmäler werden wieder neu errichtet

Nachdem in den Jahren nach 1956, als Nikita Chruschtschow mit Stalins Verbrechen auf dem XX. Parteitag der KPdSU abrechnete, Stalin-Denkmäler in ganz Russland abgebaut wurden, werden sie jetzt wieder neu errichtet. Laut dem Historiker Pawel Gnilorybow entstanden in den letzten Jahren 60 bis 100 neue Denkmäler für den russischen Diktator.

Man stelle sich einen Moment vor, in Deutschland würden wieder Denkmäler von Adolf Hitler aufgestellt oder im Deutschen Bundestag würde (wie im Chinesischen Volkskongress, wo ein großes Bild von Mao prangt) ein Bild Adolf Hitlers prangen. Zum Glück ist das unvorstellbar.

Die Zahl der Russen, die die Massenmorde in der Stalin-Ära als unentschuldbares Verbrechen betrachten, sank in den vergangenen zehn Jahren laut einer vor zwei Jahren veröffentlichten Umfrage des Lewada-Zentrums von 72 auf 39 Prozent.

Stalins Verbrechen

Aber auch im Westen ist – zumindest bei jungen Menschen – nur wenig über die Verbrechen des Kommunismus bekannt. Eine im Jahr 2016 von dem Institut YouGov durchgeführte Umfrage ergab, dass ein Drittel der jungen Amerikaner meint, unter George W. Bush seien mehr Menschen getötet worden als unter Josef W. Stalin.

Zu Erinnerung daher einige Fakten, die der französische Historiker Stéphane Courtois in dem 1997 erschienenen „Schwarzbuch des Kommunismus“ zusammengefasst hat. Er berichtet u.a. über folgende Verbrechen, die in der Zeit Lenins und Stalins begangen wurden und denen insgesamt etwa 20 Millionen Menschen zum Opfer fielen:

– Exekution von zehntausenden Geiseln und Gefangenen ohne Gerichtsverfahren,
– Ermordung von hunderttausenden rebellischen Arbeitern und Bauern von 1918 bis 1922,
– Hungersnot von 1922, die 5 Millionen Tote verursacht habe,
– Ausrottung und Deportation der Kosaken 1920,
– Ermordung von Zehntausenden in Konzentrationslagern von 1918 bis 1930,
– Liquidierung von fast 690.000 Menschen im „Großen Terror“ von 1937 bis 1938,
– Deportation von 2 Millionen Kulaken und so Genannten von 1930 bis 1932,
– Vernichtung von 4 Millionen ukrainischen und 2 Millionen russischen und anderen Bauern sowie kasachischen und kirgisischen Nomaden durch eine künstliche und systematisch verlängerte Hungersnot von 1932 bis 1933,
– Deportation von hunderttausenden Polen, Ukrainern, Balten, Moldawiern und Bewohnern Bessarabiens von 1939 bis 1941 und erneut 1944 bis 1945,
Deportation der Wolgadeutschen 1941,
– Deportation der Krimtataren 1943,
– Deportation der Tschetschenen 1944,
– Deportation der Inguschen 1944.

Putin zu Stalin
Der russische Präsident Wladimir Putin bestreitet zwar nicht diese Verbrechen, wendet sich jedoch gegen eine „unnötige Dämonisierung“ Stalins und rechtfertigte den Diktator 2009 mit der Bemerkung: „Was man auch immer sagen mag – der Sieg [im Krieg] wurde erreicht. Niemand kann heute einen Stein auf jene werfen, die das Land zu diesem Sieg führten.“ Im gleichen Jahr wurde in der Moskauer Metrostation eine alte Inschrift wiederhergestellt, die 50 Jahre zuvor entfernt worden war: „Uns erzog Stalin zur Treue zum Volk, zu Arbeit und Heldentaten regte er uns an.“ Das war eine Strophe aus der Sowjethymne, die Putin in seinem ersten Amtsjahr wieder einführte (allerdings natürlich mit anderem Text).

Im vergangenen Jahr wurde die britische schwarze Komödie „Stalins Tod“ in Russland verboten. Ein Moskauer Kino, das sich widersetzte, wurde durchsucht. Dagegen verkaufen fliegende Händler selbst auf der besetzten Krim Stalin-Shirts, preisen ihn als großen Führer.

Andererseits enthüllte Putin 2017 zum Gedenken an die Opfer der Stalinzeit eine „Mauer der Trauer“. Der Historiker und Mitarbeiter des Moskauer Staatsarchivs, Oleg Chlewniuk, meint:  „Eine offizielle Linie der Regierung, wie man mit diesem Thema umgeht, gibt es nicht. Putin hat erkannt, dass viele Menschen in Russland Stalin ablehnen, andere ihn aber verehren. Er versucht, beiden Seiten gerecht zu werden.“ Menschenrechtsorganisationen kritisieren, der Opfer werde zwar gedacht, über die Täter aber schweige die offizielle Erinnerungspolitik. „Täter nicht zu benennen ist Teil dieser politischen Haltung. Putin will den Stalin-Anhängern nicht widersprechen“, so Chlewniuk.

Führende Linksintellektuelle im Westen priesen Stalin
Doch auch hierzulande wurde die systematische Beschönigung kommunistischer Verbrechen und die Lobpreisung Stalins durch führende westliche Intellektuelle nie kritisch aufgearbeitet. Ihrem guten Ruf war es kaum abträglich, dass Dichter und Schriftsteller den sowjetischen Diktator priesen. Ich spreche hier nicht von irgendwelchen Außenseitern oder Sonderlingen, sondern von führenden Intellektuellen ihrer Zeit. Zwei Beispiele, die für ungezählte andere stehen, sind der französische Schriftsteller Henri Barbusse und der deutsche Dichter Bertolt Brecht. Barbusse war durch sein 1916 erschienenes Kriegstagebuch „Das Feuer“ weltberühmt geworden. Es wurde in mehr als 60 Sprachen übersetzt und Barbusse erhielt dafür den Prix Goncourt, den angesehensten französischen Literaturpreis. Später war er einer der fanatischsten Verehrer des sowjetischen Diktators Stalin und schrieb über ihn: „Die Geschichte seines Lebens ist eine Reihe ungezählter Siege über gewaltige Schwierigkeiten. Es verging kein Jahr seit 1917, in dem er nicht große Taten vollbrachte, von denen eine einzige genügt hätte, um ewigen Ruhm zu ernten. Stalin, das ist ein eiserner Mensch. Er macht seinem Namen alle Ehre: Stalin, der Stählerne.“

Als Stalin 1953 starb, schrieb Bertolt Brecht: „Den Unterdrückten von fünf Erdteilen, denen, die sich schon befreit haben, und allen, die für den Weltfrieden kämpfen, muss der Herzschlag gestockt haben, als sie hörten, Stalin ist tot. Er war die Verkörperung ihrer Hoffnung. Aber die geistigen und materiellen Waffen, die er herstellte, sind da, und da ist die Lehre, neue herzustellen.“

Es ist nur als Reflex des blinden Hasses auf den Kapitalismus zu verstehen, wenn ein damals führender Intellektueller wie Lion Feuchtwanger – einer der meistgelesenen deutschsprachigen Autoren des 20. Jahrhunderts -, in seinem 1937 erschienen Reisebericht aus Moskau schreibt: „Man atmet auf, wenn man aus dieser drückenden Atmosphäre einer verfälschten Demokratie und eines heuchlerischen Humanismus in die strenge Luft der Sowjetunion kommt. Hier versteckt man sich nicht hinter mystischen, phrasenhaften Schlagworten, es herrscht vielmehr eine nüchterne Ethik, wirklich ‚more geometrico constructa’, und diese ethische Vernunft allein bestimmt den Plan, nach welchem man die Union baut.“ Und: „Nie wäre bei voller Schimpffreiheit der Aufbau des Sozialismus möglich gewesen.“ Er schrieb dies unter dem Eindruck der stalinistischen Schauprozesse, die damals in Moskau stattfanden.

Kristian Niemietz zeigt in seinem soeben erschienen Buch „Socialism. The  Failed Idea That Never Dies“, dass von manchen Intellektuellen damals sogar die Konzentrationslager in der Sowjetunion, die Gulags, bewundert wurden: „They were presented as places of rehabilitation, not punishment, where inmates were given a chance to engage in useful activities, while reflecting upon their mistakes.“ Eine damals bekannte amerikanische Schrifstellerin erklärte: “The labor camps have won high reputation throughout the Soviet union as places where tens of thousands of men have been reclaimed.”

Selbst Journalisten und Intellektuelle, die die Augen nicht gänzlich vor den Verbrechen des Regimes verschlossen, rechtfertigten es mit Argumenten wie diesem: “But – to put it brutally – you can’t make an omelette without breaking eggs and the Bolshevist leaders are just as indifferent to the casualties that may be involved in their drive toward socialization as any General during the World War who ordered a costly attack.“ Diese Sätze stammen von dem Moskauer Korrespondenten der New York Times, der das Büro der Zeitung dort zwischen 1922 und 1936 leitete.

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Über den Autor

Rainer Zitelmann ist einer der führenden Immobilienexperten und -netzwerker in Deutschland.