Typisch deutsch: „Impfstoffnationalismus“ – Unwort des Jahres

Erschienen am 1. Januar 2021

Aus Furcht davor, des „Impfstoffnationalismus“ bezichtigt zu werden, hat Deutschland nicht das gemacht, was wohl jedes andere Land gemacht hätte: Zuerst an die eigenen Leute denken.

Der Biontech-Impfstoff wurde in Deutschland erfunden. Und die Entwicklung wurde mit deutschen Steuergeldern erheblich gefördert. Aber beim Impfen liegt Deutschland weit, weit hinter Ländern wie Israel, USA oder Großbritannien zurück.

Der Grund ist, dass deutsche Politiker – mal wieder – Angst davor hatten, als „nationalistisch“ beschimpft zu werden, wenn sie zuerst an die eigenen Leute denken. Deshalb wurde alles an die EU delegiert. Die Parole hieß: Der Impfstoff müsse „gerecht“ in der EU verteilt werden, alles andere sei „Impfstoffnationalismus.“

Bundespräsident Steinmeier kritisierte die USA für ihren „Impfstoffnationalismus“, aber die USA haben vernünftiger gehandelt als Deutschland und viele Monate früher den Impfstoff bestellt.

Nachdem Deutschland die Sache an die EU delegiert hatte, wurde es von der EU zusätzlich vermurkst, u.a. dadurch, dass zu spät bestellt wurde – und weniger, als man hätte kaufen können. Biontech-Chef Ugur Sahin wundert sich: „Es gab die Annahme, dass noch viele andere Firmen mit Impfstoffen kommen. Offenbar herrschte der Eindruck: Wir kriegen genug, es wird alles nicht so schlimm, und wir haben das unter Kontrolle. Mich hat das gewundert.“ Auch das wundert nicht bei der von der Leyen geführten EU – sie hat ja schließlich schon in Deutschland als Ministerin kläglich versagt.

Rechnung nicht aufgegangen

Die Hoffnung der deutschen Regierung, durch ihre Einkaufs- und Verteilungspolitik dem Vorwurf des „Impfstoffnationalismus“ vorzubeugen, ist übrigens nicht aufgegangen. Im Gegenteil. Da Deutschland im vorauseilenden Gehorsam verkündet hatte, den in unserem Land erfundenen und finanzierten Impfstoff „gerecht“ zu verteilen, hat es damit den Maßstab gesetzt, an dem es jetzt gemessen wird. Der italienische Ministerpräsident Giuseppe Conte macht Deutschland zum Sündenbock dafür, dass zu wenig Impfstoff im Land ist – so, als wäre Deutschland zuständig für die Versorgung Italiens.

Die FAZ berichtet, dass in Italien eine wütende Kampagne gegen Deutschland läuft: Die Zeitung „Libero“ titelt: „Berlin legt uns rein“, und bildet zudem eine Fotomontage ab mit dem Eingang des Konzentrationslagers Auschwitz und dem ins Tor montierten Titel „Der Impfstoff macht frei“. Unter dieser Fotomontage stand zwar ein Artikel über Impfverweigerer, doch korrespondierte die Illustration auch mit der gegenüberliegenden Seite über die angeblichen deutschen Gemeinheiten. Die seit Tagen im rechten Lager angeheizte Polemik inspirierte schließlich auch Roms Lokalzeitung „Messaggero“ zu einem kriegerischen Einstieg in den Kommentar auf der ersten Seite: „Angela Merkel schnappt sich mit einem Blitzkrieg zusätzliche 30 Millionen Impfdosen“.

Wo bleibt die Opposition?

Jan Fleischhauer hat im FOCUS zu Recht kritisiert, dass Merkels katastrophale Fehlentscheidung in den Medien kaum thematisiert wird.

Die Medien sind brav wie immer – eine positive Ausnahme ist ein kritischer Artikel im SPIEGEL und der Kommentar von BILD-Chef Julian Reichelt.

Ein trauriges Bild gibt die Opposition ab:

– Die Grünen finden bekanntlich sowieso alles gut, was Merkel macht und sind natürlich auch strikt gegen den sogenannten „Impfstoffnationalismus“.

– Die LINKE singt ihr altes Lied von den „Reichen“, die in der Corona-Krise zur Kasse gebeten müssten.

– Die AfD hat sich entschieden, Corona zu verharmlosen und gemeinsame Front mit „Querdenkern“ zu machen. Ihrem Redner im Bundestag war nur der Hinweis wichtig, man solle auch den russischen Impfstoff in Erwägung ziehen.

– Die FDP ergeht sich im Kleinklein und vergibt mal wieder eine Chance, durch klare und grundsätzliche Kritik an der Strategie der „gerechten“ Verteilung in der EU zu punkten.

Und die SPD hat die Frechheit, lautstark zu kritisieren, dass es zu wenig Impfstoff gibt, obwohl sie ja gemeinsam mit der Union beschlossen hatte, den in Deutschland erfundenen und finanzierten Impfstoff „gerecht“ in der EU zu verteilen.

Rainer Zitelmann ist Historiker, Politikwissenschaftler und Soziologe. Soeben ist die Neuauflage seines Buches „Wohin treibt unsere Republik? Wie Deutschland grün und links wurde“ erschienen.

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