Vor 100 Jahren: Warum Lenin den Kapitalismus wieder einführen musste

Erschienen am 30. September 2021

Vor 100 Jahren verkündete Lenin die Einführung einer „Neuen Ökonomischen Politik“, die nach seinen eigenen Worten eine „Wiederherstellung des Kapitalismus in beträchtlichem Ausmaß“ bedeutete.

Ein Lehrstück über Kapitalismus und Sozialismus, das sich vor 100 Jahren ereignete:

Im Februar und März 1921 kam es in ganz Russland zu Streiks von Arbeitern – eines der Zentren war Petrograd. Sondereinheiten der Tscheka eröffneten das Feuer auf demonstrierende Arbeiter. Panik brach unter den Bolschewisten aus, als sich Arbeiter und Soldaten verbrüderten. In Kronstadt, einer vor Petrograd liegenden Flottenbasis, meuterten die Marinesoldaten von zwei Panzerkreuzern. Am 1. März fand eine Versammlung von mehr als 15.000 Menschen statt, das entsprach einem Viertel der zivilen und militärischen Bevölkerung der Flottenbasis. Die Streiks und Demonstrationen wurden gewaltsam niedergeschlagen. Die Zahl der Toten ging in die Tausende. 8.000 flohen nach Finnland, kehrten aber später aufgrund eines Amnestieversprechens nach Russland zurück, wo sie jedoch sofort in ein Konzentrationslager gebracht wurden. Viele starben dort. Der Historiker Gerd Koenen resümiert in seinem Buch „Die Farbe rot“: „Triumph und Diktatur der Bolschewiki beruhten nicht zuletzt auf der vollständigen Zerschlagung der russischen Arbeiterbewegung.“

„Wiederherstellung des Kapitalismus in beträchtlichem Ausmaß“

Lenin musste erkennen, dass eine Fortsetzung der radikalen Wirtschaftspolitik das Bestehen der Sowjetmacht bedroht hätte. Die industrielle Produktion war bereits auf ein Zehntel des Wertes von 1913 gesunken, die Menschen hungerten.

Lenin unternahm darauf eine Kehrtwendung und verkündete eine „Neue Ökonomische Politik“ (NEP), die auf dem X. Parteitag der KPR im März 1921 verkündet wurde. Lenin gab zu, „dass wir an der ökonomischen Front eine ziemlich schwere ökonomische Niederlage erlitten haben“. Die Wirtschaftspolitik der Bolschewisten, so formulierte er euphemistisch, habe „nicht den Aufschwung der Produktivkräfte bewirkt, der im Programm unserer Partei als die grundlegende und unaufschiebbare Aufgabe bezeichnet wird.“ Man kann es auch deutlicher sagen: Die sozialistische Planwirtschaft war gescheitert, kaum das sie eingeführt worden war. Immerhin war Lenin so klug, zu erkennen, dass eine Lösung nur in der „Wiederherstellung des Kapitalismus in beträchtlichem Ausmaß“ bestehen konnte. So hatte er es selbst wörtlich formuliert.

Die NEP legalisierte die gewinnorientierte Produktion, das Privateigentum in der Konsumgüter-Produktion und den Erwerb von Reichtum und band außerdem die Bauern durch eine „Naturalsteuer“ in das ökonomische System ein.

Den Staatsbetrieben erlaubten die Kommunisten, ihre Fabriken an Privatpersonen zu verpachten sowie Finanzierung und Logistik von unternehmerischen Tätigkeiten in private Hände zu geben. Im Juli 1921 wurde sogar die Gewerbefreiheit für Handwerker und kleinindustrielle Betriebe wiederhergestellt.

Die im Herbst 1921 verabschiedeten neuen Leitlinien wandten sich dezidiert gegen „Gleichmacherei für Arbeiter verschiedener Qualifikationen“. Die kostenlose Abgabe von Lebensmitteln, Massengebrauchsartikeln und staatlichen Dienstleistungen – soeben noch als sozialistische „Errungenschaften“ gefeiert – wurden gestrichen, Mieten mussten wieder gezahlt werden. Von der Abschaffung des Geldes war nicht mehr die Rede. Der Historiker Helmut Altrichter schreibt: „Der Staat hatte die ‚Kommandohöhen der Wirtschaft’ in der Hand behalten: das Bankwesen, die Währung, das Verkehrssystem, den Außenhandel, die große und mittlere Industrie. Unterhalb dieser Schwelle aber bemühte er sich um mehr Leistung und Effektivität, um mehr Wettbewerb, um weniger Gängelung von oben und mehr Initiative von unten.“

Es geschah das, was immer in der Geschichte geschehen ist, wenn nur etwas mehr Markt an die Stelle der Staatswirtschaft trat: die Wirtschaft erholte sich. Der Hunger (1921/22 starben von 29 Millionen Hungernden mindestens fünf Millionen den Hungertod, manche Schätzungen nennen bis zu 14 Millionen Hungertoten) ging in den Jahren 1923 bis 1928 zurück, die Produktivität stieg, und 1925/26 war in wichtigen Bereichen das Vorkriegsniveau wieder erreicht. Die „Neue Ökonomische Politik“ war das Eingeständnis, dass die offizielle Version der Kommunisten, wonach Hunger und Niedergang der Produktion auf „ausländische Saboteure und Agenten“, Missernten und andere externe Ereignisse zurückzuführen seien, nicht den Tatsachen entsprach. Die Hauptursachen lagen in der sozialistischen Wirtschaftspolitik.

Doch für die Kommunisten stellte die NEP nur einen taktischen Rückzug dar. Im Dezember 1926 erklärte Stalin, „dass wir die NEP eingeführt haben, dass wir das Privatkapital zugelassen und einen gewissen Rückzug durchgeführt haben, um die Kräfte umzugruppieren und dann zum Angriff überzugehen“. Die Folgen des erneuten „Angriffs“ sind bekannt: Gigantische Hungersnöte und schlimmster Terror bei der Politik, die Stalin als „Zerschlagung des Kulakentums“ bezeichnete.

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