Reinhard Mohr, Deutschland zwischen Größenwahn und Selbstverleugnung. Warum es keine Mitte mehr gibt, Europa Verlag, München 2021, 158 Seiten.
„Der Kampf gegen rechts“, so Reinhard Mohr, „ist der dominierende Konsens in Gesellschaft, Politik und Medien geworden. Die stärkste Waffe dabei ist die Überzeugung, dass ‚gerade’ Deutschland mit seiner unseligen Geschichte der Welt moralisch vorangehen müsse – sei es bei der Rettung des Klimas, in der Flüchtlingskrise oder beim Kampf gegen Rassismus. Zugespitzt formuliert: Die Enkelkinder der Massenmörder, die Rechtsnachfolger jenes ‚Dritten Reiches’, das ein monströses Menschheitsverbrechen begangen hat, sind am besten geeignet, nun das radikal Gute zu tun. Schuldbewusstsein, Sühne und tätige Rehabilitation gehen dabei Hand in Hand…“ (S. 29).
Viele Gründe, sich schuldig zu fühlen
Es sind weniger politische als religiöse Begriffe, die den Kern dieser Überzeugungen beschreiben. Es gibt viele Gründe, sich schuldig zu fühlen: Als Deutscher, als Mann, als Weißer oder vielleicht einfach weil man mit dem Flugzeug fliegt und damit zum bevorstehenden Klima-Gau beiträgt. Dabei fallen den Vertretern dieser Thesen die inneren Widersprüche nicht auf: Einerseits wird behauptet, wir lebten in einem „strukturell rassistischen“ Land, wo „fremd“ aussehende Menschen täglich Opfer von Alltagsrassismus werden, andererseits drängen Millionen Menschen auf der Suche nach einem besseren Leben genau in dieses schreckliche Land (S.30 f.)
Die radikalen Verfechter dieser These von der Antifa-Fraktion bemerken den offenkundigen Selbstwiderspruch gar nicht: Ausgerechnet in dieses „faschistoide“ Deutschland lädt man Millionen „Geflüchtete“ ein (S. 23). Für die Grünen verheißt die Zuwanderung Erlösung. „Unser Land wird sich ändern, und zwar drastisch. Und ich sag euch eins: Ich freue mich drauf“, bekannte die Grünen-Politikerin Katrin Göring-Eckhardt auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise 2015. Mohr sieht darin eine ziemlich durchsichtige politische Instrumentalisierung von Migranten: Kriegs- und Armutsflüchtlinge als Präsent für die europäische Wohlstandsgesellschaft.
Die Szene mit dem Deutschland-Fähnchen
Das merkwürdig verkrampfte Verhältnis zum eigenen Land geht jedoch weit über die radikale „Deutschland verrecke“-Fraktion der Linksextremisten und die Grünen hinaus. Ein kleiner Vorfall ist symptomatisch dafür, was mit Deutschland nicht stimmt: Nach dem Wahlsieg der Union am 22. September 2013 schwenkte der damalige Generalsekretär Hermann Gröhe aus spontaner Freude während einer kleinen Siegesfeier im Konrad-Adenauer-Haus eine kleine schwarz-rot-goldene Fahne. Nach wenigen Sekunden ging Angela Merkel auf ihn zu und nahm ihm im Stil einer französischen Gouvernante das Fähnchen aus der Hand. Die Szene war live im Fernsehen zu sehen.
Das verkrampfte Verhältnis zum eigenen Land, so Mohr, zeigte sich auch in der Corona-Krise. Wer den Amtseid im Bundestag „Ich schwöre, dass ich meine Kraft dem Wohle des deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden werde“ auch auf die Beschaffung möglichst vieler Impfdosen bezog, wurde rasch als „Impf-Nationalist“ denunziert (S. 11). „Was aber inspiriert diese verquere Denkweise, einen erfolgreichen Impfstoff, der federführend in Deutschland entwickelt und produziert wurde, jenseits der europäischen Ebene nicht auch in nationaler Eigenregie ordern zu wollen, wofür man sogar Lieferengpässe und ein Kuddelmuddel in der EU in Kauf nimmt, was zugleich Menschenleben kostet?“ (S. 41) Mohr hätte hinzufügen können, dass, auf diese Frage angesprochen, Bundestagspräsident Schäuble ganz offen in einem Interview mit Maischberger sagte: „Den Preis muss man zahlen, wenn man Europa stärker will.“
Eine Parole wie „Deutsche, wir können stolz sein auf unser Land“ (SPD-Wahlkampfplakat für Willy Brandt 1972) wäre heute undenkbar und würde als Zeichen schlimmer rechtsradikaler Gesinnung bezeichnet (S. 19).
Flugscham, Wohnscham und noch mehr Grund zum schämen
Das Motto lautet: „Nur ein schlechtes Gewissen ist ein gutes Gewissen“ (S. 12). Zu dem schlechten Gewissen ein Deutscher zu sein, gesellt sich das schlechte Gewissen, das sich in Begriffen wie „Flugscham“ oder „Wohnscham“ widerspiegelt. Christine Hannemann, in Stuttgart Professorin für Wohnsoziologie, fordert, in Zukunft dürfe niemand mehr als 25 Quadratmeter Wohnraum für sich beanspruchen. In ihrer utopischen Zukunftsvorstellung soll mithilfe ehrlich empfundener „Wohnscham“ unser Leben klimaverträglich gestaltet werden. „Wir sind der Ballast dieser Erde. Wir müssen anders wohnen. Oder wir gehen unter“, sagt sie dem „Spiegel“ (S. 144).
Dass hier wieder Scham und Schuld des Menschen, letztlich die Ursünde, die zentralen Motive der Weltrettungsidee sind, die sich als Wissenschaft ausgibt, passe in die gesellschaftliche Gesamtsituation, so Mohr: „Ein neuer Kollektivismus voller Gebote und Verbote kündigt sich an – mit einem beinah mittelalterlichen Menschenbild… Der Klimagott sieht alles und verzeiht nichts. Deshalb müssen wir wie die Schafe unter dem zürnenden Firmament zusammenrücken und uns in Wohnsilos pferchen lassen, in denen eine eigene Badewanne schon purer Luxus wäre.“ (S. 144).
Selbstgeißelung
Übertrieben? In dieser extremen Ausprägung ist das sicher nur die Überzeugung einer Minderheit, aber in etwas abgeschwächter Form zunehmend Konsens unter vielen Intellektuellen, Medienmachern und Politikern. Das schlechte Gewissen ist allgegenwärtig. So bezichtigte sich unlängst eine Moderatorin des Fernsehmagazins kulturzeit auf 3Sat bei der Ankündigung eines Beitrages über Rassismus ausdrücklich, „eine Weiße“ zu sein – offensichtlich in dem Bestreben, so ihr tägliches Pensum an demonstrativem Antirassismus zu absolvieren (S. 80).
Doch inzwischen brandmarken sich sogar Deutsche mit Migrationshintergrund öffentlich als „strukturell rassistisch“. Eine schwarze 29-jährige Redakteurin der Berliner Zeitung bekannte in einem Essay voller Selbstanklage: „Obwohl mir als Betroffene bewusst ist, wie Rassismus in meinem Umfeld wirkt, konnte ich auch bei mir selbst einen inneren Abwehrmechanismus beobachten: Ein impliziter Assoziationstest ergab, dass ich weiße Gesichter stark bevorzuge. Sowohl in der Kategorie ‚Color’ als auch ‚Race’ brauchte ich länger, um positive Begriffe mit schwarzen Gesichtern zuzuordnen als weißen und umgekehrt. Ich wiederholte den Test immer wieder, weil ich es nicht wahrhaben wollte.“ (S. 82)
Für Humor ist in einer solchen Gesellschaft kein Raum mehr. Der Komiker Bernhard Hoecker übte öffentlich Selbstkritik und klagte sich an, weil er 2006 den schwarzen Rapper 50 Cent parodiert und sein Gesicht schwarz angemalt hatte, und auch Anke Engelke tat Buße: „Ich würde mich nicht mehr dunkel schminken lassen“. Grund: Nach der antirassistischen Ideologie ist „Blackfacing“ Ausdruck von schlimmstem Rassismus (S. 99).
Politische Religion
Der „antirassistische“ Kampf, der immer mehr zum zentralen Paradigma der gesellschaftlichen Auseinandersetzung avanciert, nimmt, so Mohr, immer stärker religiöse Züge an. Und überall ist die Angst verbreitet, irgendeine Zahl oder eine Tatsache, die man nennt, könne als „Rassismus“ entlarvt werden. Im März 2021 wies Lothar Wieler, der Chef des Robert-Koch-Instituts, darauf hin, dass der Anteil von Intensivpatienten mit Migrationshintergrund überproportional hoch sei – in der Bundesregierung sei das allerdings ein „Tabu“. Wenig später nahm er diese Äußerung kleinlaut zurück (S. 81).
Was Mohr in seinem Buch beschreibt, wurde schon früher von Politikwissenschaftlern mit dem Begriff der „politischen Religion“ bezeichnet, die totalitäre Züge trägt. Sie toleriert nicht nur keine abweichenden Meinungen, ist nicht nur unduldsam gegen jedes „falsche“ Wort und gegen die Erwähnung jeder Zahl, die nicht ins politisch korrekte Weltbild passt, sondern sie duldet nicht einmal das Schweigen. Mohr erinnert an das Kampflied „Sag mir, wo Du stehst“ aus der „DDR“, das jedem klarmachte: Du kannst dich auch durch Schweigen nicht aus der Affäre ziehen.
Selbst dann, wenn die Zahlen anderes sagen, gehört es dazu, dass man ständig die These wiederholt, die „Schere zwischen arm und reich“ gehe immer, immer, immer weiter auseinander. Die Botschaft ist klar: „Es wird immer schlimmer, selbst wenn es den Leuten besser geht. Sie wissen es nur nicht. Umso schlimmer für sie.“ (S. 110) Und ebenso gehört zu den vermeintlichen Gewissheiten, die Gesellschaft drifte immer weiter nach rechts. Das habe jedoch, so Mohr, einen geradezu banalen Grund: All jene, die das in immer neuen Studien herausgefunden haben wollen, sind selber vornehmlich links – Soziologen, Politologen, Migrations- und Genderforscherinnen, Islamwissenschaftlerinnen, Kultur- und Medienschaffende (S. 118).
Gegenstimmen gibt es zumindest im deutschen Fernsehen kaum noch. Es gibt keinen einzigen profilierten, gar prominenten Liberalen oder Konservativen im deutschen Fernsehen, also jemanden wie früher den Moderator des ZDF-Magazins Gerhard Löwenthal. Heute wäre er undenkbar im deutschen Fernsehen.
Fazit: Dies ist ein ausgezeichnetes Buch, ein Sittengemälde von Deutschland 2021. Dass der Autor selbst früher Linksaußen gestanden hat, ermöglicht es ihm, klarer als vielen betulich-Bürgerlichen die Gefahren für unsere Gesellschaft zu erkennen. Der Satz, den Mohr auf Kretschmann bezieht, hat viel mehr Gültigkeit für den Autor selbst: „Wer in seiner Jugend, wie auch Kretschmann, ausgiebig seine revolutionäre Sehnsucht ausgelebt und dabei noch einmal alle marxistischen, leninistischen und maoistischen Theorien durchexerziert hat, der ist später so gut wie geimpft gegen radikale, ja totalitäre Versuchungen.“ (S. 142).
Das Problem sind jedoch aus meiner Sicht nicht die linksgrünen Ideologen, die Mohr so trefflich kritisiert, sondern es ist die Feigheit, der Opportunismus und das permanente Zurückweichen der Bürgerlichen, der Wirtschaft und der Liberal-Konservativen, die glauben, durch Anbiederung könnten sie die linken Ideologen besänftigen. Ein fataler Irrtum, weil die Ideologen ein solches Verhalten als das verstehen, was es ist: als Schwäche. Es bestärkt sie nur, dass sie auf dem richtigen Weg sind und weitermachen müssen. Gestern stahlen „Aktivisten“ von Greenpeace 1200 Schlüssel von VW. VW gibt sich verständnisvoll und setzt auf den „Dialog“ mit den Dieben. Und Audi ist inzwischen dazu übergangen, seine Mitarbeiter artig-„geschlechtssensibel“ als „Audianer_innen“ anzusprechen.