WDR meint: „Mao hatte echten Weitblick“

Erschienen am 27. Mai 2021

Der WDR meint: „Mao hatte echten Weitblick“. Schon in der Mao-Bibel sei „schwarz auf weiß“ festgeschrieben worden, was dann in den kommenden Jahrzehnten passiert sei.

Sie glauben das nicht? Überzeugen Sie sich selbst, hier ist der Bericht des WDR.

Die WDR-Redakteurin hält die Mao-Bibel hoch und verkündet, Mao habe schon 1956 richtig vorhergesagt, was heute eingetreten ist. Dass nur zwei Jahre später die von Mao ausgelöste größte Katastrophe der Menschheitsgeschichte begann, der „Große Sprung nach vorne“, dem 45 Millionen Menschen zum Opfer fielen, weiß sie offenbar nicht. Da würde selbst Eduard Schnitzler mit seinem „Schwarzen Kanal“ blass vor Neid werden angesichts einer solchen Geschichtsklitterung:

Was Mao den Chinesen hinterließ, war bitterste Armut: Im Jahr 1981 lebten 88 Prozent der Chinesen in extremer Armut. Bis heute ist diese Quote auf unser 1 Prozent gesunken. Aber nicht weil „Mao echt Weitblick“ hatte, wie der WDR uns erzählt, sondern weil Deng Xiaoping nach der Mao-Katastrophe einen radikalen Kurswechsel einleitete. In meinem Buch „Kapitalismus ist nicht das Problem, sondern die Lösung“ habe ich die tatsächlichen Zusammenhänge ausführlich dargestellt.

Als ich 2018 in China war, sprach ich mit Professor Zhang Weiying, einem der führenden marktwirtschaftlichen Ökonomen in China. Er betonte immer wieder, dass das chinesische Wirtschaftswunder meist missverstanden werde – sowohl im Westen, aber leider auch zunehmend in China selbst. Die ökonomischen Erfolge Chinas, so betonte Zhang Weiying immer wieder, seien „nicht wegen des hohen Staatsanteils in der Wirtschaft, sondern trotz des hohen Staatsanteils in der Wirtschaft“ errungen worden. Im Westen sehen es viele Politiker und auch Unternehmer umgekehrt und glauben, China sei deshalb so erfolgreich, weil der Staat eine sehr aktive Rolle spielt. Daraus folgern sie, auch in Deutschland müsse der Staat eine weitaus aktivere Rolle spielen.

Der Erfolg Chinas ist jedoch nicht, wie oft behauptet, Beweis für die Überlegenheit eines „dritten Weges“ zwischen Kapitalismus und Sozialismus, sondern einzig und allein Ergebnis der Tatsache, dass die einstmalige reine Staatswirtschaft sukzessive zurückgedrängt wurde und dem Privateigentum und den Marktkräften mehr Raum gegeben wurden. Ein historischer Rückblick auf den Beginn des Reformprozesses Ende der 70er-Jahre, ermöglicht ein Verständnis des Geschehens:

„Mao hatte Weitblick“?: 45 Millionen Tote

Der Historiker Frank Dikötter kommt auf Basis einer Auswertung von Analysen des chinesischen Sicherheitsdienstes sowie der umfangreichen Geheimberichte, die in den letzten Monaten des „Großen Sprungs“ von Parteikomitees verfasst wurden, zu dem Ergebnis: Mindestens 45 Millionen starben in den Jahren 1958 bis 1962 einen unnötigen Tod. Die meisten verhungerten, während etwa 2,5 Millionen starben, weil sie zu Tode gefoltert oder erschlagen wurden – oder weil man ihnen gezielt jegliche Nahrung verweigerte, damit sie verhungerten. „Menschen wurden zur Tötung ausgewählt, weil sie wohlhabend waren, weil sie trödelten, weil sie ihre Meinung sagten oder weil die Person, die in der Volksküche das Essen ausgab, aus irgendeinem Grund eine Abneigung gegen sie hatte“.

Wer Kritik übte, wurde bestraft, und davon war nicht nur eine kleine Minderheit betroffen, wie etwa ein Bericht über Fengyang zeigt. Dort wurden 28.026 Menschen (über zwölf Prozent der Bevölkerung) mit körperlichen Züchtigungen oder der Kürzung der Essensrationen bestraft. 441 Menschen starben an den Folgen, 383 wurden schwer verletzt.

Der chinesische Journalist Yang Jisheng berichtete: „Der Hunger war gegen Ende schrecklicher als der Tod selbst. Die Maiskolben waren gefressen, das wilde Gemüse war gefressen, die Baumrinde war gefressen, Vogelmist, Mäuse und Ratten, Baumwolle, alles hatte man sich in den Bauch gestopft. Wo man Guanyin-Erde, eine Art fetten Lehm, fand, schob man sich bereits beim Graben dicke Klumpen in den Mund.“ Es kam immer wieder zu Kannibalismus. Zuerst wurden die Kadaver toter Tiere gegessen, doch später begannen die Dorfbewohner in ihrer Verzweiflung, Tote auszugraben, zu kochen und zu essen. Menschenfleisch wurde sogar, wie anderes Fleisch, auf dem Schwarzmarkt gehandelt. Eine nach Maos Tod entstandene (und prompt verbotene) Studie über den Bezirk Fengyang in der Provinz Anhui verzeichnete allein für den Frühling 1960 63 Fälle von Kannibalismus, darunter ein Ehepaar, das seinen achtjährigen Sohn erwürgte und aufaß.

All das wollte die kommunistische Führung zunächst nicht wahrhaben. Sie wurde Opfer ihres eigenen Angstregimes. Die Kommunen meldeten sensationelle Ernteergebnisse, die das sozialistische Wunder belegen sollten. Wer realistische Zahlen meldete, bekam statt der roten eine weiße Fahne, wurde der Lüge beschuldigt und Opfer von Gewalt. In der Tat hatten sich die Bauern in den Jahren zuvor teilweise mit falschen Angaben gegen die Erhöhung der Getreideabgaben gewehrt. Aber bald schon galt jeder, der erklärte, er habe Hunger, als Feind der sozialistischen Revolution und Anhänger des Kapitalismus. Die Aussage „Ich habe Hunger“ wurde immer mehr zu einem Tabu.

Der radikale Schwenk nach Maos Tod

Nach dem menschlichen und ökonomischen Desaster der Mao-Ära erkundeten die Chinesen in anderen Ländern, wie es dort aussah und was sie von ihnen lernen könnten. 1978 begann eine rege Reisetätigkeit führender chinesischer Politiker und Wirtschaftler. Sie unternahmen 20 Reisen in mehr als 50 Länder, um herauszufinden, was sie wirtschaftlich von ihnen lernen könnten. Unter anderem besuchten sie Japan, Thailand, Malaysia, Singapur, die USA, Kanada, Frankreich, Deutschland und die Schweiz. Bevor eine Delegation von 20 hochrangigen Politikern und Wirtschaftlern die erste Reise nach Westeuropa seit Begründung der Volksrepublik China antrat, forderte Deng Xiaoping die Mitglieder der Reisegruppe auf, so viele Fragen wie möglich zu stellen, genau zu beobachten und herauszufinden, wie diese Länder ihre Wirtschaft managten.

Den Politikern und Wirtschaftsleuten, die sahen, wie es beispielsweise den Arbeitern in Japan ging, fiel es wie Schuppen von den Augen und sie merkten, dass sie jahrelang von der kommunistischen Propaganda belogen worden waren, als diese die Errungenschaften des Sozialismus in China mit dem Elend in den kapitalistischen Ländern verglich. In Wahrheit verhielt es sich genau umgekehrt, wie jeder sehen konnte, der diese Länder bereiste. „Je mehr wir von der Außenwelt sehen, desto klarer wird uns, wie rückständig wir sind“, wiederholte Deng immer wieder.

Doch es wäre falsch zu glauben, man sei nun über Nacht zum Kapitalismus „bekehrt“ gewesen und habe sofort begonnen, in China die Planwirtschaft abzuschaffen und die Marktwirtschaft einzuführen. Man begann langsam, tastend, gab den Staatsbetrieben mehr Eigenständigkeit. Der Übergang von der sozialistischen Staatswirtschaft zur Marktwirtschaft vollzog sich nicht schlagartig, sondern in einem über Jahre und Jahrzehnte andauernden Prozess, der noch lange nicht abgeschlossen ist. Und mindestens ebenso wichtig wie die Initiativen von oben, also von der Partei, waren Bewegungen von unten, so etwa von den Bauern.

Privateigentum wird wieder eingeführt

Nach den Erfahrungen mit dem „Großen Sprung nach vorn“ gingen die Bauern in immer mehr Dörfern selbst dazu über, wieder den Privatbesitz an Ackerland einzuführen, was offiziell verboten war. Aber es zeigte sich rasch, dass die Erträge der privaten Landwirtschaft sehr viel höher waren, und die Parteifunktionäre ließen die Menschen gewähren. Zunächst wurde in besonders armen „Bettler-Dörfern“ experimentiert – nach dem Motto: Wenn es hier schief geht, ist das nicht so schlimm, denn vom Boden kann man nicht fallen. In einem dieser kleinen Dörfer erlaubte die Parteiführung den Bauern, die besonders ertragsarmen Felder privatwirtschaftlich zu bestellen. Kaum hatte man dies erlaubt, fiel der Ertrag drei Mal so hoch aus, wie bei den kollektiv bewirtschafteten Böden.

Schon lange bevor das offizielle Verbot von privater Landwirtschaft 1982 aufgehoben wurde, gab es überall in China spontane Initiativen von Bauern, die das private Eigentum entgegen dem sozialistischen Glaubensbekenntnis wieder einführten. Das Ergebnis war sehr positiv: Die Menschen mussten nicht mehr hungern, die landwirtschaftliche Produktion stieg rapide an.

Aber nicht nur auf dem Land kam es zu Veränderungen. Jenseits der großen staatlichen Unternehmen gab es zahlreiche kommunale Unternehmen, die zwar formal den Städten und Gemeinden gehörten, aber zunehmend wie private Unternehmen gemanagt wurden. Diese Unternehmen erwiesen sich oft den schwerfälligen Staatsunternehmen als überlegen, weil sie nicht den engen Vorgaben einer Planwirtschaft unterlagen.

In den 80er-Jahren etablierten sich zunehmend de facto privatwirtschaftlich geführte Unternehmen im Gewand von Kollektivunternehmen, sogenannten COEs (Collective Owned Enterprises) oder TVEs (Township and Village Enterprises). Es ist zu kurz gegriffen, in einem Schwarz-Weiß-Schema zwischen Staats- und Privateigentum zu unterscheiden, denn auch wenn es sich rechtlich um Eigentum einer Stadt oder Gemeinde handelte, wurden diese Betriebe in Wahrheit wie Privatunternehmen geführt.

Kapitalistische Sonderwirtschaftszonen

Das sozialistische System, wonach es ausschließlich Staatseigentum geben dürfe, von einer staatlichen Planbehörde geleitet, wurde von unten mehr und mehr ausgehöhlt. Von großer Bedeutung war die Schaffung sogenannter Sonderwirtschaftszonen. Das waren Gebiete, in denen das sozialistische Wirtschaftssystem außer Kraft gesetzt war und in denen mit kapitalistischen Wirtschaftsformen experimentiert werden durfte. Die erste Sonderwirtschaftszone war Shenzen, die nahe dem damals politisch und wirtschaftlich eigenständigen, kapitalistischen Hongkong lag. Shenzen war das Gebiet, von dem Chinesen illegal in die britische Kronkolonie emigrierten. So wie vor dem Mauerbau immer mehr Menschen aus Ost- nach Westdeutschland flohen, so versuchten auch immer mehr Menschen aus dem sozialistischen China in das kapitalistische Hongkong zu fliehen.

Deng war so klug zu erkennen, dass sich das Problem nicht allein mit der Armee und schärferen Grenzkontrollen lösen ließ. Die Parteiführung der Provinz Guangdong, zu der Shenzhen gehörte, stellte eine Untersuchung über die illegale Emigration an. Sie musste lernen, dass sich die Geflohenen auf der anderen Seite des Shenzhen-Flusses auf dem Territorium von Hongkong ansiedelten, ein eigenes Dorf gründeten und dort 100 Mal mehr verdienten als die Menschen auf der sozialistischen Seite des Flusses.

Deng argumentierte, China müsse dafür sorgen, dass der Lebensstandard auf der chinesischen Seite steige, dann hätten die Menschen keinen Grund mehr, zu fliehen. Shenzhen, das damals weniger als 30.000 Einwohner zählte, wurde zum ersten kapitalistischen Experimentierfeld in China. Die Parteifunktionäre, die in Hongkong und Singapur gesehen hatten, dass der Kapitalismus sehr viel besser funktioniert als der Sozialismus, gestatteten ein marktwirtschaftliches Experiment in dieser Sonderwirtschaftszone.

Das ehemalige Fischerstädtchen, aus dem die Menschen einst unter Lebensgefahr flohen, ist heute neben Hongkong und Macau die Stadt mit dem höchsten Pro-Kopf-Einkommen in China. Fast zwölf Millionen Menschen leben dort, tragende Säulen der lokalen Wirtschaft sind die Elektronik- und die Telekommunikationsindustrie. Das Modell der Sonderwirtschaftszonen wurde rasch auf andere Regionen übertragen. Für ausländische Investoren waren diese Sonderwirtschaftszonen sehr attraktiv. Sie profitierten von niedrigen Steuersätzen, einer geringen Bodenpacht und geringen bürokratischen Verwaltungsauflagen. Hier herrschte eine freiere Marktwirtschaft als wir sie heute in vielen europäischen Ländern kennen.

„Hier in China glaubt kaum noch einer an die Ideen von Karl Marx“

Ich besuchte diese Region im Dezember ein zweites Mal, nachdem ich schon im August 2018 da gewesen war. Eingeladen war ich von meinem chinesischen Buchverlag, in dem vier meiner Bücher erschienen sind. Diesmal sprach ich mit Vertretern eines privaten Thinktanks. Der Leiter ist Professor und gehört weder der Kommunistischen Partei noch einer der anderen acht „Parteien“ in China an. „Vielleicht werden wir die letzten Verteidiger des Kapitalismus sein“, meinte er. Dass in Europa und den USA sozialistische Ideen eine Renaissance erfahren ist für ihn ebenso unverständlich wie die Klimahysterie in Deutschland. „Hier in China glaubt kaum noch einer an die Ideen von Karl Marx“.

China ist ein Land der Widersprüche: Ich war in einem „Innovation and Entrepreneur Hub“ in Shenzhen, wo junge Unternehmer an modernen Robotern und anderen Erfindungen arbeiten, finanziert von Venture Capital-Firmen und gefördert vom Staat. Vor dem Eingang steht in riesigen Lettern „Whats NEXT?“ – eine Erinnerung an die Firma von Steve Jobs, die er nach seinem Ausscheiden von Apple gründete. Im Eingangsbereich des Gebäudes findet man Filme und Fotos, die von modernem Unternehmergeist zeugen, daneben ein Foto von Karl Marx und dem „Kommunistischen Manifest“.

Beeindruckt haben mich der unternehmerische Geist und der Hunger der Chinesen nach Aufstieg und Reichtum. Ich war eingeladen zu einem Vortrag an der Peking University HSBC Business School in Shenzhen. Der Beginn war Freitag, 19.30 Uhr. Der Raum war überfüllt mit über 800 Studenten (die Businessschool hat insgesamt 1000 eingeschriebene Studenten). Manche mussten sogar stehen oder auf den Fensterbänken des Hörsaals sitzen, weil kein Platz mehr war. Thema des Vortrages waren die „Sieben wichtigsten Faktoren, um reich zu werden“. Wie viele Studenten einer westlichen Universität würden Freitag Abend fast drei Stunden einen Vortrag hören und diskutieren, wie man reich wird? Ich vermute, in Universitäten in Europa und den USA würde man auf mehr Begeisterung mit Vorträgen über die Übel des Kapitalismus stoßen, ein Thema, das Chinesen dagegen weltfremd vorkäme.

Zurück zur Geschichte: Anders als in der Sowjetunion und den anderen ehemaligen Ostblockstaaten, wo nach dem Zusammenbruch des Sozialismus der Marxismus scharf kritisiert wurde, bekannten sich Deng und die Reformer in China weiterhin zum Marxismus. Aber das, was sie mit „Marxismus“ meinten, hatte nicht mehr das Geringste mit der ursprünglichen Theorie von Karl Marx zu tun.

Ein entscheidender Schritt war, dass der 14. Parteitag der Kommunistischen Partei Chinas im Oktober 1992 erstmals offiziell die Marktwirtschaft als Ziel der Reformen verkündete. Das wäre einige Jahre davor noch völlig undenkbar gewesen. Die Reformen gewannen immer mehr an Dynamik. Zwar wurde die Planwirtschaft nicht abgeschafft, aber der Anteil der Preise für Rohstoffe, Transportdienstleistungen und Kapitalgüter, die staatlich festgelegt waren, sank drastisch.

Zudem begann eine Reform der Staatsbetriebe. Waren sie bislang allein im staatlichen Besitz, so wurden nun Privatpersonen und ausländische Investoren in den Kreis der Gesellschafter aufgenommen. Bisher hatten die Arbeitnehmer in Staatsbetrieben eine lebenslange Beschäftigungsgarantie. Der Staat kaufte diese Garantie den Arbeitnehmern in vielen Betrieben gegen eine Einmalzahlung ab, dafür wurde eine Sozialversicherung eingeführt.

Zunächst dachten die Reformer, die Staatsbetriebe könnten effizienter werden, wenn das Management und die Arbeiter stärker erfolgsabhängig bezahlt würden. Zudem wurden in vielen Staatsunternehmen die Parteifunktionäre, die bislang die Entscheidungen trafen, durch ein professionelles Management ersetzt.

Tatsächlich brachte das Fortschritte, und die Motivation der Beschäftigten stieg durch solche Maßnahmen. Das zentrale Problem bei Staatsbetrieben konnte jedoch allein dadurch nicht gelöst werden – dass sie nämlich nicht pleite gehen können. In einer Marktwirtschaft findet ein ständiger Ausleseprozess statt: Unternehmen, die Konsumentenwünsche erfüllen und gut gemanagt werden, überleben im Wettbewerb, diejenigen, die am Verbraucherbedürfnis vorbei produzieren oder schlecht gemanagt werden, gehen irgendwann pleite und verschwinden vom Markt. Diese Auslese gibt es bei Staatsunternehmen nicht. Viele Staatsbetriebe waren wirtschaftlich ungesund, weniger als ein Drittel arbeitete Mitte der 90er-Jahre profitabel.

Der Prozess der Privatisierung gewann jedoch bald an Fahrt, manche Unternehmen wurden an die Börse gebracht. Es kam zu zahlreichen spontanen bzw. von den lokalen Regierungen initiierten Privatisierungen. Viele staatliche Betriebe waren unter Wettbewerbsbedingungen nicht überlebensfähig. Entscheidend zum Verständnis der Dynamik der chinesischen Reformen ist, dass sie nur teilweise „von oben“ initiiert wurden. Vieles geschah spontan – die Kräfte des Marktes setzten sich gleichsam urwüchsig durch gegen den Staat. Das ist ein Grund, warum die Marktwirtschaft in China besser funktioniert als in Russland und anderen ehemals kommunistischen Ostblockstaaten, wo sie oft von heute auf morgen „eingeführt“ wurde, statt sich langsam von unten zu entwickeln. Das war in China deshalb eher möglich, weil bereits unter Mao das chinesische System nicht so stark von einer allmächtigen staatlichen Planbehörde bestimmt wurde, wie das beispielsweise in der Sowjetunion der Fall war. Obwohl in China heute offiziell noch eine Planwirtschaft herrscht, darf man den „Plan“ nicht mit den rigiden Vorgaben und Steuerungen verwechseln, wie sie in den Planwirtschaften traditionellen Typus herrschten. Die alten Begriffe, zum Beispiel „Sozialismus“, „Plan“, „Marxismus“, „Mao Zedong-Ideen“ bleiben, aber sie wurden umgedeutet, so dass sie entweder inhaltsleer wurden oder gar das Gegenteil dessen besagten, was ursprünglich einmal damit gemeint war. Wahrscheinlich hat gerade dies den Übergang von der sozialistischen Planwirtschaft zum Kapitalismus in der Praxis so sehr erleichtert.

Die Entwicklung Chinas zeigt, dass steigendes Wirtschaftswachstum – auch bei gleichzeitig steigender Ungleichheit – den meisten Menschen zugute kommt. Hunderten Millionen Menschen in China geht es heute sehr viel besser, und zwar nicht obwohl es so viele Millionäre und Milliardäre gibt, sondern gerade deshalb, weil Deng die Parole ausgegeben hatte: „Lasst einige erst reich werden.“ Deng hatte Recht damit, dass der wirtschaftlichen Entwicklung die Hauptpriorität eingeräumt werden müsse, was sich an folgenden Tatsachen zeigt: Untersucht man, in welchen Provinzen die Armut in China in den vergangenen Jahrzehnten am meisten zurückgegangen ist, dann sind es die mit dem höchsten Wirtschaftswachstum. Und noch etwas anderes ist bemerkenswert: Die Chancen für sozialen Aufstieg sind in den vergangenen Jahrzehnten in China ganz erheblich gestiegen.

Auch wenn es viele sehr positive Entwicklungen in China in den vergangenen Jahrzehnten gab, sind die Reformaufgaben noch gewaltig. Zhang Weiying, der sicherlich der klügste Analytiker der chinesischen Wirtschaft ist und selbst auch einiges zu ihrer Entwicklung beigetragen hat, betont in seinem Buch „The Logic Of The Market“: „Chinas Reformen starteten mit einer allmächtigen Regierung in einer Planwirtschaft. Der Grund, warum China während des Reformprozesses sein Wachstum fortsetzen konnte, war, dass die Regierung sich weniger einmischte und der Anteil der Staatsbetriebe zurückging, nicht umgekehrt. Gerade die Lockerung der Kontrolle durch den Staat, brachte Marktpreise, Einzelunternehmen, städtische und kommunale Unternehmen, private Firmen, ausländische Unternehmen und andere nicht-staatliche Betriebe ermöglichte.“ All diese war die Basis für den ungeheuren wirtschaftlichen Aufstieg Chinas.

Oft wird der chinesische Weg zum Kapitalismus als ein ganz besonderer Weg wahrgenommen, bei dem der große Einfluss des Staates hervorgehoben wird. Dies liegt jedoch nur daran, dass es sich um eine Transformation von einer sozialistischen Staatswirtschaft zum Kapitalismus handelte. In vielerlei Hinsicht ist der chinesische Weg nicht so außergewöhnlich, betont Zhang Weiying: „Tatsächlich ist Chinas ökonomische Entwicklung grundsätzlich identisch mit der in einigen westlichen Ländern, so wie in Großbritannien während der industriellen Revolution, in den Vereinigten Staaten im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert und in einigen asiatischen Ländern wie Japan und Südkorea nach dem Zweiten Weltkrieg. Sobald Marktmechanismen eingeführt und die richtigen Anreize gesetzt sind, damit Menschen nach Reichtum streben, folgt das Wunder des Wachstums früher oder später.“

Letztlich bestand das ganze Geheimnis darin, Stück für Stück den Markt zu stärken, den staatlichen Einfluss zurückzudrängen und die besten Talente zu motivieren, nicht mehr im Staatsdienst zu arbeiten, sondern in der privaten Wirtschaft. Dies war nur möglich, weil das Recht auf Privateigentum legalisiert wurde. Man darf sich dies nicht so vorstellen, dass von einem Tag auf den anderen die vollen Eigentumsrechte eingeführt wurden, wie wir sie aus westlichen kapitalistischen Ländern kennen. Der Prozess vollzog sich Schritt für Schritt vom Beginn der 80er-Jahre und fand einen ersten Höhepunkt in der neuen Verfassung von 2004, in der das Privateigentum offiziell anerkannt wurde. Dazwischen gab es viele Zwischenstufen, so etwa – wie erwähnt – Betriebe, die formal staatlich waren, aber faktisch mehr und mehr in den Besitz des Managements übergingen, bis das Management dann irgendwann auch formal Eigentümer der Betriebe wurde.

Heute wird 60 Prozent des Bruttosozialproduktes in China im privaten Sektor erwirtschaftet. 70 Prozent der Innovationen werden in der Privatwirtschaft initiiert, 80 Prozent der Beschäftigung in den Großstädten ist in privaten Firmen und 90 Prozent der neuen Jobs entstehen im Privatsektor.

Zhang Weying betont jedoch, dass der Transformationsprozess bis heute nicht abgeschlossen ist und noch viele Reformaufgaben auf eine Lösung warten. Die staatliche Kontrolle über große Ressourcen und die exzessive Intervention in die Wirtschaft seien der Grund für Günstlingswirtschaft und Korruption. Daher sieht er einen erheblichen Reformbedarf, insbesondere mit Blick auf die Herstellung von Rechtsstaatlichkeit und eine weitere Liberalisierung.

Ob China diesen Weg gehen wird, ist offen. Der Prozess der Marktreformen verlief nie gerade und gleichförmig, sondern es gab – gerade auch in den vergangenen Jahren – immer wieder Rückschritte, wenn etwa der Staat wieder stärker in die Wirtschaft eingriff und Reformen zurücknahm. China wird sich nur dann weiter so positiv entwickeln wie in den vergangenen Jahrzehnten, wenn an dem Grundkurs der Entwicklung in Richtung „mehr Kapitalismus“, der den Erfolg begründet hat, festgehalten wird. „Von den 50er- Jahren bis vor 30 Jahren haben wir an die Planwirtschaft geglaubt”, so Zhang Weiying. „Das Ergebnis war eine gewaltige Katastrophe. Wenn wir weiterhin unsere Hoffnungen auf die staatliche Planung setzen und Chinas Wirtschaft mithilfe großer staatlicher Unternehmen entwickeln wollen, dann haben wir absolut keine Aussichten für die Zukunft. Nur wenn wir uns in Richtung der Logik der Märkte bewegen, wird China eine strahlende Zukunft haben.“

Rainer Zitelmann ist promovierter Historiker und Soziologe. Von China handelt auch das erste Kapitel seines Buches „Kapitalismus ist nicht das Problem, sondern die Lösung“.

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