Es hilft den Menschen nicht, wenn sie sich als Opfer sehen

Erschienen am 10. Juli 2020

Die Botschaft linker Opfer-Ideologen entmutigt Menschen: „Da deine Lebenssituation aus strukturellen Gründen so ist, wie sie ist, hast du keine Chance, sie zu ändern, bis nicht die Strukturen beseitigt sind.“

Sind Sie auch „Opfer“ von irgendeinem „ismus“? In der me-too-Debatte ging es um Opfer des Sexismus, in der aktuellen Debatte geht es um Opfer des Rassismus und immer geht es um Opfer des Kapitalismus. Wenn Sie alt sind, sind Sie vermutlich Opfer des „Ageismus“ (Vorurteile gegen alte Menschen) und wenn Sie Arbeiter oder arbeitslos sind, dann sind Sie wahrscheinlich Opfer des „Klassismus“ (Vorurteile aufgrund der Schichtzugehörigkeit). Und wenn sie nicht so gut aussehen, dann sind Sie sicherlich Opfer des „Lookism“ (Vorurteile gegen Menschen aufgrund ihres Aussehens). Mehrfach-Opfer zu sein adelt sozusagen.

Opfer zu sein gilt in linken Kreisen als Auszeichnung, wer kein Opfer ist, muss „Täter“ sein. Zu letzter Gruppe gehören „alte weiße Männer“ – diese stets mit Herablassung vorgebrachte Bezeichnung ist übrigens weder Ausdruck von Rassismus noch von Sexismus.

Hilft man den Menschen wirklich, wenn man sie dazu anleitet, sich vor allem als Opfer zu sehen? Im Grunde macht man die Menschen hilflos. Die Botschaft lautet: „Da deine Lebenssituation aus strukturellen Gründen so ist, wie sie ist, hast du keine Chance, sie zu ändern, bis nicht die Strukturen beseitigt sind.“ Ständig ist von „strukturellen Ursachen“ die Rede, ohne das genauer erklärt wird, was damit gemeint ist. Im Zweifel ist der Kapitalismus gemeint, es geht um die „Systemfrage“. Es läuft immer wieder auf die Botschaft hinaus: Solange das System nicht abgeschafft oder radikal geändert wird, hast du keine Chance.

Linke Klassismus-Forscher entmutigen die Menschen

Wäre den Menschen nicht eher geholfen, wenn man ihnen Beispiele von anderen Menschen zeigen würde, die es trotz vielfältiger Schwierigkeiten geschafft haben, nach oben zu kommen? Menschen beispielsweise wie Oprah Winfrey, die aus einfachen Verhältnissen kam und zur ersten schwarzen Selfmade-Milliardärin der Welt wurde? Linke Klassismusforscher, mit denen ich mich kritisch in meinem Buch „Die Gesellschaft und ihre Reichen“ auseinandergesetzt habe, lehnen es ausdrücklich ab, von so etwas überhaupt zu reden.

In einem grundlegenden Werk zum Thema Klassismus von Diana Kendall (Framing Class: Media Representations of Wealth and Poverty) werden Zeitungsberichte kritisiert, in denen der Aufstieg von Menschen aus einfachen Verhältnissen zum Reichtum dargestellt wird. Kendall nennt die Story über Oprah Winfrey als negatives Beispiel. In solchen Geschichten werde die Bedeutung der persönlichen Anstrengung und Denkweise bzw. von Persönlichkeitsmerkmalen für den ökonomischen Erfolg viel zu stark betont. Hiermit, so kritisiert die Autorin, werde der „Mythos des amerikanischen Traums“ perpetuiert. „Angesichts der geringen Chance auf einen solchen Erfolg, führt das Nacheiferungs-Framing vor dem Hintergrund der wirtschaftlichen und sozialen Realität der 2000er Jahren nicht nur zu unrealistischen Erwartungen. Es bietet den finanziell Bessergestellten gleichzeitig auch eine Rechtfertigung, die Schlechtergestellten zu verspotten.“ Zudem kritisiert sie, wenn in Medienberichten manchmal der Eindruck erweckt werde, Arme seien „teilweise selbst für ihre Notlage verantwortlich“, beispielsweise wenn sie Drogen nähmen oder sich nicht um einen Job bemühten.

Hinter dieser Kritik steht ein Menschenbild, nach dem Menschen weder für die positiven noch für die negativen Ergebnisse in ihrem Leben verantwortlich sind: Die Berichterstattung über sozialen Aufstieg und Reiche wird kritisiert, weil darin zuweilen der Eindruck erweckt werde, die Persönlichkeit und die individuelle Anstrengung seien ein Grund für den Erfolg; die Berichterstattung über Arme wird kritisiert, weil dort der Eindruck bestärkt werden könnte, manche trügen eine Mitschuld an ihrem Los. Aus Sicht Kendalls und anderer Klassismus-Forscher sind stets das kapitalistische System und „strukturelle“ Ungerechtigkeiten dafür verantwortlich, dass Menschen reich oder arm würden, während die Benennung individueller Ursachen als Versuch gebrandmarkt wird, den Armen selbst die Schuld an ihrem Schicksal zu geben.

Ray Charles sah sich nie als Opfer

Ich lese gerade die beeindruckende Autobiografie von Ray Charles, dem „Hohepriester des Soul“, dessen Einfluss stilprägend für die Entwicklung von Rhythm and Blues, Blues, Country und Soul war. Das Magazin „Rolling Stone“ wählte ihn nach Aretha Franklin und vor Elvis Presley auf Platz 2 der 100 besten Sänger aller Zeiten. Ray Charles wuchs in sehr ärmlichen Verhältnissen und ohne Vater auf. Mit sieben Jahren erblindete er. Neun Monate zuvor hatte er mit ansehen müssen, wie sein Bruder ertrank. Rassismus erlebte er täglich. Einmal schwamm er im Meer und seine Freunde riefen aufgeregt, er solle sofort zurückkommen – weil er blind war, hatte er nicht gesehen, dass er die Grenze zwischen dem für Schwarze und dem für Weiße bestimmten Teil überschwommen hatte.

Mich hat seine Lebensphilosophie beeindruckt. In seiner Autobiografie schrieb Charles, wie wichtig es für ihn war, als Jugendlicher zu „verstehen, wie die Welt funktionierte: Wenn ich in Schwierigkeiten geriet, war das meine Schuld. Oder wenn etwas halbwegs Gutes machte, konnte ich dafür das Verdienst in Anspruch nehmen. Verantwortung übernehmen musste ich verdammt früh lernen.“

Viele Jahre seines Lebens war er Heroin-abhängig. Er hätte anderen die Schuld geben, sich selbst als Opfer sehen können. Aber er meinte: „Niemand hat mir das angetan. Ich selbst hab es mir angetan. Es war nicht die Gesellschaft, es war kein Dealer, es war nicht die Tatsache, dass ich blind war oder schwarz oder arm. Es war alles meine Entscheidung.“ Selbst wenn er einmal betrogen wurde, machte ihn das weder zornig noch verbittert, wie er betonte, sondern es „lehrte mich bloß, meine Nase tiefer in meine Geschäftsbücher zu stecken“. Und als er wegen Drogenbesitzes zu einer Gefängnisstrafe verurteilt wurde, sagte er: „Aber ich war mir auch bewusst, dass ich selbst der Einzige war, dem ich die Schuld für die Misere geben konnte.“

Stephen Hawking sah seine Behinderung als Vorteil

Der Physiker Stephen Hawking litt an einer seltenen Krankheit, der Amyotrophe Lateralsklerose, einer Erkrankung des motorischen Nervensystems. Mediziner prophezeiten ihm, nur noch wenige Jahre zu leben. Er war nicht nur an den Rollstuhl gefesselt, sondern verlor auch die Fähigkeit zu sprechen. Für die verbale Kommunikation nutzte er einen Sprachcomputer. Dennoch wurde er der vielleicht bekannteste Wissenschaftler der Welt, war zwei Mal verheiratet, reiste durch alle Kontinente, traf interessante Persönlichkeiten aus Wissenschaft und Politik und schrieb erfolgreiche internationale Bestseller. Der Schlüssel zu all dem war seine innere Einstellung. Er sah vor allem die positiven Seiten in seiner Behinderung. In seiner Autobiografie schrieb er, dass er wegen seiner Behinderung keine Vorlesungen halten und keine Studienanfänger unterrichten und nicht an langweiligen und zeitraubenden Institutssitzungen teilnehmen musste, sondern sich uneingeschränkt der Forschung hingeben konnte: „Meiner Meinung nach sollten sich behinderte Menschen auf die Dinge konzentrieren, die ihnen möglich sind, statt solchen hinterherzutrauern, die ihnen nicht möglich sind. Mir war es möglich, die meisten Dinge zu tun, die ich tun wollte.“

„Der Mensch ist nicht Gefangener des Schicksals, sondern einzig und allein seines eigenen Geistes“ sagte Franklin D. Roosevelt, 32. Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika. Roosevelt war an Kinderlähmung erkrankt und von der Hüfte ab weitgehend gelähmt, er konnte kaum selbstständig gehen. Was er sagt, stimmt: Die Grenzen, die uns daran hindern, Größeres in unserem Leben zu erreichen, haben wir selbst errichtet – sie sind in unserem Kopf. Gelingt es uns, diese Grenzen einzureißen, dann ist uns vieles möglich, von dem wir heute nicht einmal zu träumen wagen. Jede Veränderung in unserem Leben beginnt daher nicht mit der Änderung der äußeren Umstände, sondern mit der Änderung in unserem Kopf.

Aus psychologischen Untersuchungen wissen wir, dass sich erfolglose Menschen als Opfer äußerer Umstände sehen und glauben, ihr Leben werde von Faktoren bestimmt, die außerhalb ihres eigenen Einflusses liegen. Erfolgreiche Menschen dagegen betonen viel stärker jene Dinge, die sie selbst beeinflussen und verändern können. Sie sehen sich selbst als Schöpfer ihres Schicksals. Die erste Einstellung führt zu Passivität und Mutlosigkeit, die zweite Einstellung führt zu Aktivität und motiviert, sich selbst anzustrengen. Sie können wählen: Was glauben Sie, mit welcher der beiden Einstellungen haben Sie bessere Chancen, es im Leben zu etwas zu bringen?

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