Im Westen versteht man Chinas wirtschaftlichen Erfolg nicht

Erschienen am 16. November 2020

China hat mit 14 anderen Asien-Pazifik-Staaten den größten Freihandelsblock der Welt geschlossen. Das Freihandelsabkommen umfasst 2,2 Milliarden Menschen und rund ein Drittel der weltweiten Wirtschaftsleistung. Das Abkommen verringert Zölle, legt gemeinsame Handelsregeln fest und erleichtert damit auch Lieferketten. Es umfasst Handel, Dienstleistungen, Investitionen, E-Kommerz, Telekommunikation und Urheberrechte. RCEP steht für „Regional Comprehensive Economic Partnership“. Neben China und den zehn Asean-Staaten Vietnam, Singapur, Indonesien, Malaysia, Thailand, Philippinen, Myanmar, Brunei, Laos und Kambodscha beteiligen sich auch Japan, Australien, Südkorea und Neuseeland.

Das Abkommen ist auch ein Symbol: Während in den USA Protektionisten Oberhand gewonnen haben und der Westen Handelskriege führt, verteidigt China die kapitalistische Idee des Freihandels. Der Westen versteht nach wie vor nicht, was die Gründe für den wirtschaftlichen Erfolg Chinas sind. Immer wieder liest man in westlichen Medien von der „chinesischen Staatswirtschaft“ oder gar vom „kommunistischen System“.

Man muss klar zwischen dem politischen System unterscheiden, das eine Einparteienherrschaft ist, und dem wirtschaftlichen System, das mit „Kommunismus“ nichts zu tun hat. Dass der Staat nach wie vor eine große Rolle in China spielt, liegt vor allem daran, dass China vor einigen Jahrzehnten noch eine reine Staatswirtschaft war, die erst sukzessive umgewandelt wurde. Zunächst wurde das Privateigentum eingeführt, dann wurde eine Preisreform durchgeführt und immer mehr Elemente der Marktwirtschaft umgesetzt.

Unterschätzt wird heute im Westen die Bedeutung der Privatwirtschaft in China. Ein Arbeitspapier des World Economic Forum erklärte: „Chinas Privatsektor – der sich seit der globalen Finanzkrise wieder belebt hat – dient nun als Hauptantrieb des chinesischen Wirtschaftswachstums. Die Kombination der Zahlen 60/70/80/90 wird häufig verwendet, um den Beitrag des Privatsektors zur chinesischen Wirtschaft zu beschreiben: Er trägt 60 Prozent zum chinesischen BIP bei, ist für 70 Prozent der Innovationen, 80 Prozent der städtischen Beschäftigung und 90 Prozent der neuen Arbeitsplätze verantwortlich. Privatunternehmen sind auch für 70 Prozent der Investitionen und 90 Prozent der Exporte verantwortlich.“ Heute trägt der Privatsektor Chinas fast zwei Drittel zum Wachstum des Landes und neun Zehntel der neuen Arbeitsplätze bei, so die All-China Federation of Industry and Commerce.

Die Deutung der Ursachen des wirtschaftlichen Erfolges von China ist von größter Bedeutung – auch und gerade für die westlichen Länder. Entweder ist man der Meinung, dass China so erfolgreich war, weil der Staat dort eine große Rolle in der Wirtschaft spielt. So denken manche westlichen Politiker, die damit auch eine zunehmend stärkere Rolle des Staates rechtfertigen wollen. Oder aber man versteht, dass Chinas wirtschaftlicher Erfolg „not because of the state, but in spite of the state“ erfolgte, eine Formulierung, die der chinesische Ökonom Zhang Weiying gegenüber mir in einem Gespräch in Peking 2018 gebrauchte. Wer das versteht, der wird auch verstehen, dass Amerika und Europa nicht mehr, sondern weniger Staat brauchen. Und er wird verstehen, dass nicht nur für China, sondern auch für die USA und Europa gilt: Kapitalismus ist nicht das Problem, sondern die Lösung.

Niemals in der Menschheitsgeschichte sind innerhalb weniger Jahrzehnte so viele Menschen bitterer Armut entkommen wie in China. Noch im Jahr 1980 lebten 88 Prozent der Chinesen in extremer Armut, heute sind es weniger als ein Prozent. Ob China weiter den Weg in Richtung Kapitalismus gehen wird oder ob in China Kräfte die Oberhand gewinnen, die für eine stärkere Rolle des Staates eintreten, ist noch offen. Seit Jahrzehnten gibt es in China diesen Kampf zweier Linien – und er ist nie endgültig entschieden.

Das Freihandelsabkommen beweist jedoch, dass die chinesische Führung die Kraft wirtschaftlicher Freiheit verstanden hat. Ein Professor, mit dem ich in China viele Stunden diskutierte (er kannte die USA genau, weil er eine zeitlang Gastprofessor an einer amerikanischen Universität war), meinte zu mir: „Wir Chinesen werden die letzten Verteidiger des Kapitalismus sein.“ Offiziell ist „Kapitalismus“ in China (so wie im Westen) ein „dirty word“. Aber der Erfolg Chinas in den vergangenen Jahrzehnten beruht zweifelsohne auf kapitalistischen Reformen. Heute gibt es so viele Milliardäre in China wie nirgendwo auf der Welt – mit Ausnahme der USA. Das Konzept, mit dem Deng Xiaoping seinerzeit seine Reformpolitik begann: „Lasst einige erst Mal reich werden“ hat funktioniert.

Ich habe 2018 und 2019 zahlreiche Vorträge in China gehalten: Die Menschen dort sind begeistert von der Idee, als Unternehmer reich zu werden. Ich erinnere mich an einen Vortrag an der HSBC Business School in Shenzhen, eine kleine Hochschule mit etwa 1000 Studenten. Ich hielt dort am Freitag Abend einen Vortrag darüber, wie man reich wird: Von den 1000 Studenten waren 850 da, der Hörsaal war überfüllt. https://www.youtube.com/watch?v=oskFI9rJzuw

Der Vortrag und die Diskussion dauerten viele Stunden. Ich bezweifle, dass Freitag Abends an einer Universität in den USA oder Europa das Interesse an dem Thema auch nur annähernd so groß gewesen wäre. Ich vermute, in den USA und Europa würde man mehr Studenten zu einem Vortrag über Strategien zur Abschaffung des Kapitalismus oder über die moralische Verwerflichkeit des Reichtums motivieren.

Rainer Zitelmann hat ausführlich über die Gründe für Chinas Wirtschaftserfolg in seinem Buch „Kapitalismus ist nicht das Problem, sondern die Lösung“ geschrieben.

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