Kambodscha unter den Roten Khmer – Der utopische Sozialismus von Bruder 1

Erschienen am 30. Juni 2021

Daniel Bultmann: Kambodscha unter den Roten Khmer. Die Erschaffung des perfekten Sozialisten, Verlag Ferdinand Schöningh, 2017.

Dies ist ein erschütterndes und zugleich sehr lehrreiches Buch über eines der radikalsten sozialistischen Experimente der Geschichte. Obwohl das Experiment nur von Mitte 1975 bis Anfang 1979 dauerte, kam dabei zwischen einem Viertel und einem Fünftel der Bevölkerung Kambodschas um – die Schätzungen belaufen sich auf 1,6 bis 2,2 Millionen Menschen. Aufschlussreich ist dieses Experiment, das der Anführer Pol Pot (auch „Bruder 87“ genannt) nach dem Vorbild von Maos „Großem Sprung nach vorne“ als „Super Großen Sprung nach vorne“ bezeichnete, weil es in extremer Weise den Glaube daran zeigt, eine Gesellschaft könne künstlich am Reißbrett konstruiert werden.

Von Intellektuellen in Paris erdacht

Heute wird manchmal davon gesprochen, Pol Pot und seine Freude hätten einen „primitiven Steinzeitkommunismus“ verwirklichen wollen und ihre Herrschaft erscheint als enthemmte Irrationalität. Tatsächlich verhielt es sich anders. Die Vordenker und Anführer waren Intellektuelle, die aus guten Familien entstammten und in Paris studiert hatten. „Basierend auf Anleihen marxistischer und maoistischer Konzepte entwickelte die intellektuelle Spitze der Partei ihr eigene Theorie der weltkapitalistischen Ausbeutung, ihr eigenes Modell der kambodschanischen Sozialstruktur und ihrer historisch gewachsenen Verwerfungen, die das Land in einem Zirkel der Unterentwicklung und Abhängigkeit von anderen gefangen halten.“

Zwei der Vordenker, Khieu Samphan und Hi Nim, hatten in Paris marxistisch bzw. maoistisch argumentierende Dissertationen geschrieben. Der Pariser Zirkel der Intellektuellen nahm nach der Machtergreifung fast alle führenden Positionen in der Regierung ein.

Sie hatten einen detaillierten Vierjahresplan ausgearbeitet, der genau alle benötigten Produkte (Nadeln, Scheren, Feuerzeuge, Tassen, Kämme usw.) auflistete. Der Detaillierungsgrad war selbst für eine Planwirtschaft ungewöhnlich. So hieß es zum Beispiel: „Essen und Trinken sind kollektiviert. Nachtisch wird ebenso kollektiviert zubereitet. Kurz gesagt, den Lebensstandard des Volkes anzuheben, bedeutet es kollektiv zu tun. Im Jahr 1977 soll es zwei Nachtische pro Woche geben. Im Jahr 1978 gibt es einen Nachtisch alle zwei Tage. Und dann im Jahr 1979 gibt es jeden Tag einen Nachtisch und so weiter. Also werden die Menschen kollektiv mit ausreichend Essen leben, sie werden (zudem) mit Snacks ernährt. Sie sind glücklich, in diesem System zu leben.“

Die Partei, so schreibt Daniel Bultmann in seiner Analyse, „plante das Leben der Bevölkerung wie auf dem Reißbrett und fügte sie in einen vorstrukturierten Raum und in vorstrukturierte Bedürfnisse ein.“ Überall sollten gigantische Bewässerungsanlagen und Felder entstehen, und zwar in einer gleichmäßigen, quadratischen Bebauungsform. Alle Regionen wurden den gleichen Zielvorgaben unterworfen, da die Partei glaubte, dass genormte Ausgangsbedingungen auf exakt gleich großen Feldern auch einen genormten Ertrag erbringen würden. „Mit dem neuen Bewässerungssystem und den Schachbrettartigen Reisfeldern sollte die Natur der utopischen Wirklichkeit einer vollends kollektivistischen und Ungleichheit bereits im Keim beseitigenden Ordnung angepasst werden.“

Doch die Anordnung der Bewässerungsdämme in gleich großen Quadraten mit ebenso quadratischen Feldern in ihrer Mitte führte oft zu Überschwemmungen, da die natürlichen Wasserströme einfach ignoriert wurden und die Kommunisten meist über keinerlei technische Kenntnisse des Dammbaus verfügten. Die Bewässerungsanlagen wurden in Zwangsarbeit errichtet, exakt nach dem Plan aus der Zentrale – aber 80 Prozent funktionierten nicht.

Das Privateigentum sollte vollständig abgeschafft werden – so wie wir das auch aus einigen utopischen Romanen kennen. „Bruder 87“ und seine Genossen beschränkten sich nicht auf eine Verstaatlichung des Grund und Bodens und der Produktionsmittel. Ab dem September 1976 mussten die Menschen absolut alles abgeben, also Uhren, Radios, Werkzeug, Pflüge, Saatgut, Küchenutensilien usw. Alle Menschen mussten die gleiche, schwarze Einheitskleidung und einen nach Geschlechtern getrennten „revolutionären“ Haarschnitt tragen. Schmuck gab es nicht. Allerdings konnten Parteikader an Notizblöcke, Fahrräder und Stifte kommen, die sie von der Masse deutlich abhoben und die sie dann mit Stolz vorführten.

Menschen wurden aus den Städten vertrieben

Um noch einmal ganz von vorne anzufangen, wurden fast alle Menschen aus den Städten vertrieben. Dabei logen die Kommunisten die Menschen an und sagten ihnen, es stünden Bombardierungen durch die USA bevor und sie müssten die Häuser nur für ein paar Tage verlassen, daher müssten sie nicht viele Dinge mitnehmen und die Häuser auch nicht abschließen. Doch von Anfang an war geplant, dass sie nie mehr in ihre Häuser zurückkehren sollten. Familien wurden auseinandergerissen, die Menschen vereinzelten und wurden neu in Kollektiven zusammengepresst. Das Kollektiv übernahm sogar die Auswahl des Ehepartners – und wer mehr als einmal einen Ehepartner ablehnte, konnte schnell als Feind des Systems gelten.

Noch am Tag der Machtergreifung, am 17. April 1975 legte der Anführer Pol Pot seinen Plan für die kommenden Wochen und Monate dar, der u.a. vorsah:

  • Evakuierung aller Menschen aus den Städten
  • Abschaffung aller Märkte.
  • Abschaffung des Geldes.

Gleich am ersten Tag wurde die Zentralbank gesprengt und das Geld komplett abgeschafft. Die Banknoten flatterten wertlos durch die verlassenen Straßen der Stadt, Gold oder Schmuck wurde – so wie aller Privatbesitz – beschlagnahmt.

Die Planwirtschaft scheiterte jedoch schon rasch und radikal. Die Menschen mussten Hunger leiden. Aber natürlich sahen die Kommunisten die Ursache für das Scheitern nicht in der Unmöglichkeit, eine Gesellschaft am Reißbrett zu entwerfen, sondern verantwortlich seien Saboteure. Zehntausende wurden verhaftet und in Foltergefängnisse eingesperrt. Unter Folter wurden „Geständnisse“ erpresst, wie etwa dieses: „Ich gab Anweisungen, die Ernte zu zerstören, indem man sie noch unreif erntet. Ich habe Chaet beauftragt, Reis zu verbrennen… Mein Ziel war es, Unruhe unter den Menschen zu schaffen, vor allem zwischen dem neuen Volk und dem Basisvolk. Dies behinderte den Plan der Partei.“

Die Geständnisse, die unter Folter erpresst wurden, lauteten alle ähnlich, zum Beispiel: „Ich bin ein falscher Revolutionär, denn in Wirklichkeit bin ich ein Feind, ein Feind des Volkes, der Nation Kampucheas, und der Kommunistischen Partei Kampucheas. Ich bin ein billiger, reaktionärer Intellektueller, der sich bloß als Revolutionär ausgibt.“ Menschen mussten gestehen, dass sie für die CIA arbeiteten, obwohl viele gar nicht wussten, was die CIA war (manche dachten, dies sei der Name einer Person). Die Geständnisse waren zum Teil absurd und in sich widersprüchlich, so etwa: „Ich bin kein Mitglied der CIA. Ich habe gestanden, der CIA anzugehören, als man mich mit meiner Schuld konfrontierte. Ich bitte die Organisation, mich zu töten, weil ich nicht der Revolution gefolgt bin.“

Kinder als Folterknechte

Das ganze Land wurde mit einem Netz von 196 sogenannten Sicherheits- und Umerziehungszentren durchzogen, die sich in ihrer Struktur, in ihren Funktionen und internen Abläufen haargenau glichen. Schulen und buddhistische Pagoden wurden geschlossen und zu Internierungslagern für den Klassenfeind umfunktioniert.

Für den Kern des Sicherheitsapparates wurden vor allem Kinder zwischen 12 und 16 Jahren rekrutiert, die nach Meinung von Pol Pot unbeschriebene, weiße Blätter waren, die man beliebig mit sozialistischem Denken befüllen könnte. Teil der Ausbildung der Kinder war es, dass sie dabei zusehen mussten, wie andere vor ihren Augen gefoltert oder auf bestialische Weise unter langsamen Qualen ermordet wurden. Dabei durften sie keine Gefühlsregung zeigen, da dies als Zeichen der Sympathie mit dem Feind gedeutet wurde und entsprechend unter Strafe stand.

Am Anfang richtete sich der Terror vor allem gegen die „Reichen“ und Gebildeten. „Die Reichen und Gebildeten aus den Städten waren plötzlich – wortwörtlich – ganz unten in der Nahrungskette. Berichte über sadistisches Verhalten von Kadern, die selbst in Überfluss lebten und die alte Elite quälten, gab es dementsprechend reichlich.“ Die Kommunistische Partei erklärte vor allem die oberen Wirtschafts- und Bildungsklassen zu Feinden des Volkes und ermordete sie bereits bei kleinsten Vergehen in den Umerziehungslagern. „Kandidaten, die sich wünschen, der Partei beizutreten, müssen aus niedrigen Klassen kommen, wie etwa aus der ärmeren oder mittleren Bauernschaft, primär aus den unteren Schichten.“

Doch bald schon wurde der Kreis der „Feinde“ immer größer und keine Bevölkerungsgruppe verschont. Jeder konnte jederzeit als „Feind“ des Systems entlarvt werden, auch wenn er der Kommunistischen Partei angehörte – die Hälfte der eigenen Kader wurde ermordet. Wer nicht als „Feind“ gelten wollte, musste permanent andere „Feinde“ entlarven und denunzieren, so entstand eine Spirale der Gewalt. Später wurden im ganzen Land fast 20.000 Massengräber mit den Opfern des Regimes entdeckt.

Angkar sieht alles

Die Organisation, die alles beherrschte nannte sich „Angkar“ und die Menschen wussten nicht einmal, wer diese Organisation war. Sie wussten nur, dass sie sich ihr nicht widersetzen konnten und dass sie das gesamte Leben beherrschte – so wie der „Big Brother“ in George Orwells Buch 1984. „Alle revolutionären Gesetze wurden im Namen Angkars verkündet; alle Vergehen waren Angkar bekannt und wurden von ihr bestraft. Angkar war überall, eine alles durchdringende Präsenz, der niemand entkam. ‚Angkar hat mehr Augen als eine Ananas’, sagte ein Kader. Ehemänner und Ehefrauen sprachen über Angkar nur im Privaten, flüsternd, in Angst gehört zu werden. Niemand kritisierte Angkar öffentlich; selbst eine minimale und flüchtige Andeutung konnte genug sein, um sich eine Verhaftung, Befragung sowie das abschließende Verschwinden zur Umerziehung zu sichern. Die Gefahr war omnipräsent; zu keinem Zeitpunkt konnte man sich sicher sein, ob nicht ein Spion Angkars mithörte.“

Das Regime scheiterte schon nach wenigen Jahren. Doch es ist nur ein extremes Beispiel dafür, wie sozialistische Utopien durch einen extremen Konstruktivismus verwirklicht werden sollten. Pol Pot und seine Genossen hatten geglaubt, radikale Gleichheit werde zu einer gerechten und glücklichen Gesellschaft führen. Er hätte es besser wissen können, nachdem der „Große Sprung nach vorne“ in Maos China bereits so grandios gescheitert war und 45 Millionen Menschenleben gekostet hatte. Aber Sozialisten lernen nicht aus der Geschichte. Für Pol Pot war das sozialistische Experiment des „Großen Sprungs nach vorne“ ein Vorbild – es war eben nur nicht radikal und konsequent genug umgesetzt worden, daher sprach er bei seinem Experiment von einem „Super Großen Sprung nach vorne“.

So sehen wir eine fortlaufende Reihe gescheiterter sozialistischer Experimente – von der Sowjetunion über China bis hin zur radikalsten Variante in Kambodscha. So unterschiedlich sie im Detail waren, so einte sie alle der konstruktivistische Wahn und Glaube daran, dass nur die Abschaffung des Privateigentums, der erbitterte Kampf gegen „die Reichen“ und die Implementierung einer Planwirtschaft die Menschen aus dem Elend von Feudalismus und Kapitalismus erlösen könne.

Rainer Zitelmann ist Autor von dem Buch: Kapitalismus ist nicht das Problem, sondern die Lösung.

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