Mauer war die „sozialistische Normalität“

Erschienen am 13. August 2021

Am 13. August jährt sich zum 60. Mal der Bau der sozialistischen Mauer. Gedanken zum Zusammenhang von Sozialismus und Unfreiheit.

Haben Sie schon einmal gehört, dass Menschen von Miami nach Kuba fliehen, von Süd- nach Nordkorea oder von Chile nach Venezuela? Die Fluchtrichtung ist immer identisch: Vom Sozialismus zum Kapitalismus. Die Vertreter des „demokratischen Sozialismus“ distanzieren sich von Systemen wie sie in der Sowjetunion und den Ostblockstaaten herrschten. Aber sie tun so, als könne man beides beliebig voneinander trennen, die Ökonomie und die Politik: Sie kritisieren an den sozialistischen Systemen eher beiläufig und auch nicht grundsätzlich die Wirtschaftsverfassung – im Mittelpunkt der Kritik steht die Beseitigung von politischer Freiheit (Meinungsfreiheit, Pressefreiheit usw.) und Demokratie.

Die ökonomischen Rezepte vieler Anhänger des „demokratischen Sozialismus“ ähneln durchaus denen ihrer nicht-demokratischen Genossen, denn sie sind von einem tiefen Misstrauen gegen die Kräfte des Marktes und einem fast grenzenlosen Vertrauen in den Staat gekennzeichnet. Sie wollen nur den „Fehler“ korrigieren, den die real existierenden sozialistischen Staaten in den vergangenen 100 Jahren gemacht haben und wollen das sozialistische Wirtschaftssystem mit einer demokratischen Staatsverfassung kombinieren. Dies meint letztlich der Begriff des „demokratischen Sozialismus“. Obwohl Marx gerade die enge Interdependenz von Ökonomie und Politik, von Basis und Überbau betonte, leugnen die demokratischen Sozialisten diesen Zusammenhang.

Die berühmte Stelle aus Marx’ Vorwort „Zur Kritik der Politischen Ökonomie“, in der er diesen Zusammenhang beschreibt, lautet: „Meine Untersuchung mündete in dem Ergebnis, dass Rechtsverhältnisse wie Staatsformen weder aus sich selbst zu begreifen sind noch aus der sogenannten allgemeinen Entwicklung des menschlichen Geistes, sondern vielmehr in den materiellen Lebensverhältnissen wurzeln… In der gesellschaftlichen Produktion ihres Lebens gehen die Menschen bestimmte, notwendige, von ihrem Willen unabhängige Verhältnisse ein, Produktionsverhältnisse, die einer bestimmten Entwicklungsstufe ihrer materiellen Produktivkräfte entsprechen. Die Gesamtheit dieser Produktionsverhältnisse bildet die ökonomische Struktur der Gesellschaft, die reale Basis, worauf sich ein juristischer und politischer Überbau erhebt und welcher bestimmte gesellschaftliche Bewusstseinsformen entsprechen. Die Produktionsweise des materiellen Lebens bedingt den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozess überhaupt.“

Es ist ein eigenartiger Widerspruch, dass Sozialisten, die sich sonst gerne auf Marx berufen, diesen Zusammenhang zwischen Ökonomie und Politik leugnen, wenn es um die Kritik sozialistischer Gesellschaften geht. Für sie ist es anscheinend ein Zufall, dass Gesellschaften mit einer nicht-kapitalistischen Basis, die sich durch das Fehlen wirtschaftlicher Freiheit auszeichnet, auch einen „Überbau“ haben, in dem politische Freiheiten fehlen.

Der Ökonom Kristian Niemietz hat diesen Zusammenhang gut auf den Punkt gebracht: „Sozialistische Machthaber schränkten die Freiheit ihrer Bürger nicht aus Jux und Dollerei ein. Sie taten das dann, wenn sie die Stabilität oder die Funktionsfähigkeit des Systems gefährdet sahen. Deswegen geschah das auch nicht wahllos, sondern, ganz im Gegenteil, auf sehr systematische Art und Weise.“ Ein Beispiel für den Zusammenhang der Beseitigung wirtschaftlicher und politischer Freiheit war die DDR: Zuerst wurde durch die Verstaatlichung von Grund und Boden und der Produktionsmittel die wirtschaftliche Freiheit beseitigt. In der Folge kam es zu einem massiven Gefälle zwischen der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit Ostdeutschlands und der Westdeutschlands. Der Lebensstandard im Westen war wesentlich höher als im Osten und 2,8 Millionen Menschen – insbesondere, aber nicht nur Unternehmer und gut ausgebildete Fachkräfte – flohen aus der DDR. Dass die Mauer gebaut wurde, entsprach also durchaus einer ökonomischen Zwangsläufigkeit, denn anders wäre das System in Ostdeutschland ausgeblutet. „Mit anderen Worten“, so Niemietz in seinem Buch „Sozialismus. Die gescheiterte Idee, die niemals stirbt“: „Die Berliner Mauer war keinesfalls eine Anomalie. Im Gegenteil: Die Anomalie war die offene Grenze zwischen Ost- und Westberlin. Der Bau der Berliner Mauer war die Herstellung sozialistischer Normalität.“

Die Beseitigung wirtschaftlicher Freiheit führt zwangsläufig zu einer Ausweitung der Macht des Staates, da sich Politik und Bürokratie nicht mehr darauf beschränken, die politische Sphäre zu bestimmen, sondern auch die der Ökonomie. Während in kapitalistischen Ländern neben der politischen Elite eine wirtschaftliche Elite existiert, die auch Macht und Einfluss hat, gibt es in einem System der Staatswirtschaft nur noch eine Elite, die alle gesellschaftlichen Bereiche dominiert.

Dr. Dr. Rainer Zitelmann ist Autor des Buches: Kapitalismus ist nicht das Problem, sondern die Lösung.

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