Vor 50 Jahren sollte in der Sowjetunion das kommunistische Paradies beginnen

Erschienen am 27. August 2021

Es war ein Paukenschlag: Am 31. Juli 1961 verkündete das NEUE DEUTSCHLAND in großer Aufmachung auf der ersten Seite: „Die heutige Generation der Sowjetmenschen wird im Kommunismus leben“

Die Überschrift in dem Zentralorgan der SED lautete: „Programmentwurf der KPdSU verkündet die wahren Menschenrechte. Kommunismus bringt der Welt Frieden, Arbeit, Freiheit, Gleichheit und Glück.“ Anlass des euphorischen Artikels: Auf ihrem 22. Parteitag verabschiedete die Kommunistische Partei der Sowjetunion ein Programm, in dem es hieß, die sozialistische Übergangsstufe, die laut Marx und Lenin zwischen dem Kapitalismus und dem Endzustand des wahren Kommunismus liege, solle nach Ablauf von zehn Jahren beendet sein und es solle die Endphase des Kommunismus beginnen.

Das Versprechen: In 10 Jahren die USA überflügeln

„Der Aufbau der kommunistischen Gesellschaft“, so hieß es in dem Programm, „ist zur unmittelbaren praktischen Aufgabe des Sowjetvolkes geworden.“ Bis 1970, so wurde versprochen, werde die Sowjetunion die USA, „das mächtigste und reichste Land des Kapitalismus, in der Pro-Kopf-Produktion überflügeln“. Bis 1980 werde dann der Aufbau des Kommunismus vollendet sein. Die Sowjetunion werde ihren Bürgern einen Lebensstandard sichern, „der höher ist als in jedem beliebigen kapitalistischen Land“ und werde das Land „mit dem kürzesten und zugleich produktivsten und höchstbezahlten Arbeitstag“. Die ganze Bevölkerung werde „ihre Bedürfnisse an hochwertigen und mannigfaltigen Nahrungsmitteln voll befriedigen können“ und bis 1980 werde ein solcher „Überfluss an materiellen und kulturellen Gütern für die gesamte Bevölkerung“ erzielt werden, dass man zu dem von Marx proklamierten „kommunistischen Prinzip der Verteilung nach den Bedürfnissen“ übergehen könne.

Die Vision von Marx und Lenin vor der Verwirklichung

Lenin bezeichnete in seiner Schrift „Staat und Revolution“ als Endziel die „Abschaffung des Staates, d.h. jeder organisierten und systematischen Gewalt, jeder Gewaltanwendung gegen Menschen überhaupt“. Es bedürfe lediglich eines Zwischenstadiums des Sozialismus und der Diktatur des Proletariats, um diesen Endzustand der kommunistischen Gesellschaft herzustellen. Schon Marx hatte in seiner „Kritik des Gothaer Programms“ geschrieben: „Zwischen der kapitalistischen und der kommunistischen Gesellschaft liegt die Periode der revolutionären Umwandlung der einen in die andre. Der entspricht auch eine revolutionäre Übergangsperiode, deren Staat nichts andres sein kann als die revolutionäre Diktatur des Proletariats.“

Tatsächlich gab es in keinem sozialistischen Staat eine Diktatur des Proletariats. Die frühe Sowjetunion basierte geradezu auf einer Zerschlagung der Arbeiterbewegung und entwickelte sich rasch zur Diktatur einer Partei und letztlich eines Despoten. Nach der Fiktion von Marx, Engels und Lenin sollte auf eine Übergangsperiode ein Endzustand folgen, in dem es keinen Staat mehr gibt. „Schließlich“, so Lenin, „macht allein der Kommunismus den Staat völlig überflüssig, denn es ist niemand, niederzuhalten, ‚niemand’ im Sinne einer Klasse, im Sinne des systematischen Kampfes gegen einen bestimmten Teil der Bevölkerung“. Wenn die Produktionsmittel vergesellschaftet seien und den Klassen die ökonomische Basis entzogen sei, werde der Staat von selbst absterben.

Bekanntlich ist niemals, in keinem Land auf der Welt, so etwas eingetreten. Der Staat starb nicht nur nicht ab, sondern wurde ständig stärker, die Gewalt wurde nicht überflüssig, sondern war eines der charakteristischen Merkmale sozialistischer Systeme.

Das Programm der KPdSU aus dem Jahr 1961 nahm die Versprechen von Marx und Lenin auf und nahm wortwörtlich Bezug auf die Formulierungen von Marx in seiner Schrift „Kritik des Gothaer Programms“. Dort hatte Marx versprochen: „In einer höheren Phase der kommunistischen Gesellschaft, nachdem die knechtende Unterordnung der Individuen unter die Teilung der Arbeit, damit auch der Gegensatz geistiger und körperlicher Arbeit verschwunden ist; nachdem die Arbeit nicht mehr nur Mittel zum Leben, sondern selbst das erste Lebensbedürfnis geworden; nachdem mit der allseitigen Entwicklung der Individuen auch ihre Produktivkräfte gewachsen und alle Springquellen des genossenschaftlichen Reichtums voller fließen – erst dann kann der enge bürgerliche Rechtshorizont ganz überschritten werden und die Gesellschaft auf ihre Fahne schreiben: Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen!“ Genau diesen Zustand versprach die KPdSU bis spätestens 1980 zu erreichen.

Die Realität

Nichts davon traf ein. Obwohl die Sowjetunion 1982 mit 270 Millionen Einwohnern 16 Prozent mehr Einwohner hatte als die USA (232) Millionen, wurden in den USA in diesem Jahr 44 Mio. Radios verkauft, in der UdSSR sechs Millionen, in den USA wurden 8 Mio. Autos verkauft, in der UdSSR 1,4 Mio., in den USA wurden 29 Mio. Tonbandgeräte verkauft, in der UdSSR 3,2 Mio.

1981, also in dem Jahr, in dem laut Programmversprechen der Kommunismus verwirklicht sein sollte, ergab ein Vergleich zwischen den USA und der Sowjetunion:

„Im Jahr 1976 betrug der reale Pro-Kopf-Verbrauch in der Sowjetunion 34,4 % des Pro-Kopf-Verbrauchs in den Vereinigten Staaten: Dieser Wert ist das geometrische Mittel aus Vergleichen in Rubel (27,6 %) und in Dollar (42,8 %). Vermutlich sind diese Vergleiche indes zu Gunsten der UdSSR verzerrt, da die notorisch schlechte Qualität und die geringe Auswahl an sowjetischen Konsumgütern und Dienstleistungen nicht vollständig berücksichtigt werden können. Die Vergleiche können auch nicht das unregelmäßige, primitive Verteilungssystem und Engpässe berücksichtigen, die den sowjetischen Verbrauchern das Einkaufen erschweren. Auf der Grundlage eines geometrischen Mittelwertvergleichs kommen die sowjetischen Verbraucher den Amerikanern beim Verbrauch von Nahrungsmitteln, Getränken und Tabakwaren (54 %) und von Weichwaren (39 %) am nächsten. Bei langlebigen Konsumgütern und Haushaltsdienstleistungen ist der sowjetische Rückstand massiv (weniger als 20 Prozent des US-Niveaus).“

Als Michail Gorbatschow dann Mitte der 80er Jahre in der Sowjetunion mit grundlegenderen Reformen begann, brach das System vollständig im Chaos zusammen. An seine Stelle trat freilich keine freie, kapitalistische Gesellschaft, sondern ein System des „Crony Capitalism“ (Anders Aslund, Russias Crony Capitalism), das wirtschaftlich ineffizient ist und dessen Bruttosozialprodukt trotz der Größe des Landes und des Rohstoffreichtums sogar noch unter dem Italiens liegt. Im Index der wirtschaftlichen Freiheit lag Russland 2021 auf einem sehr schlechten 92. Platz.

Rainer Zitelmann ist Autor des Buches „Kapitalismus ist nicht das Problem, sondern die Lösung“.

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